Filmkritik
Im Zentrum des Melodramas steht „Blanca“– wie Blancanieves (Schneewittchen), der Name der Unschuld, im Spanischen verniedlicht zu „Blanquita“. Das Drama, das seine Premiere bei den 79. Internationalen Filmfestspielen in Venedig (2022) feierte und dort den Preis für das beste Drehbuch erhielt, zeigt die Heranwachsende zwischen allen Stühlen. Die Kamera spielt mit Nah- und Zerraufnahmen von ihr und beleuchtet damit nicht nur ihre eigene Zerrissenheit, sondern hinterfragt so auch kontinuierlich ihre Aussagen als Zeugin.
Das Drehbuch basiert auf einer einjährigen Untersuchung des „Falles Spiniak“, einem Netzwerk von Kinderprostitution und Pädophilie, das vom mächtigen chilenischen Geschäftsmann Claudio Spiniak geleitet wurde. Der Fall (2003) war einer der turbulentesten und verwirrendsten in der chilenischen Justiz-, Politik- und Journalismusgeschichte der letzten fünfzehn Jahre, in den auch die Kirche involviert war. Spiniak wurde verurteilt und zehn Jahre inhaftiert. Ein breites Echo erlangte der Fall durch die mutmaßliche Beteiligung von drei schließlich entlasteten Senatoren und durch die zweifelhafte Rolle verschiedener Medien bei der Aufarbeitung.
Im Strudel der Falschaussagen
Niemand vermochte in dem Dickicht aus Beschuldigungen, Falschaussagen und systematischer Delegitimierung der minderjährigen Zeugen durchzublicken. Regisseur Fernando Guzzoni hat sich in die Einzelheiten des Falles vertieft. Er durchforstete umfangreiches Quellenmaterial – Zeitungsberichte, Gerichtsakten und Interviews.
Fasziniert durch die Figur der Gemita Bueno, ein zwanzigjähriges Mädchen, das Chile neun Monate lang in Atem hielt, entwarf er in seiner filmischen Fiktionalisierung die Figur der „Blanquita“. In Chile landete Gemita hinter Gittern, aber die Gesellschaft war in Bezug auf den Fall tief gespalten.
„Blanquita ist eine Untersuchung über persönliche Wahrheit, Täuschung, Ethik und die Interpretation von Wahrheit“, so der Regisseur. Vor allem aber gehe es um das Doppelleben eines Mädchens oder einer Frau, die aufgrund ihrer Chancenlosigkeit und der ständigen Enttäuschung durch die Institutionen, die sie zu schützen versprachen, an ihre Grenzen stoße. Durch ihre Aussage gegen die Mächtigen will sie sich an der Klasse rächen.
Der gebürtige Chilene Guzzoni wirft einen souveränen Blick auf das Dickicht der chilenischen Gesellschaft. Die Szenen scheinen wie aus dem wahren Leben gegriffen. Das Spanische ist – vor allem bei den vielen ordinären Kraftausdrücken – nicht kohärent ins Französische übertragen worden. Trotzdem zieht der Film den Zuschauer schnell in seinen Bann.
Am Fall der Blanquita zeigt er exemplarisch, wie die Leidtragenden auf der Strecke bleiben. Ihre Zeugenaussagen im Film werden systematisch in Zweifel gezogen und delegitimiert. Je mehr Fragen gestellt werden, desto unklarer wird, welche Rolle
Blanca in diesem Skandal genau spielt … Am Ende kursiert ein Video im Netz von ihr beim Sex.
Die herrschende Klasse distinguiert sich in Chile durch Vermögen und Vernetzung, vor allem aber durch ihren Habitus. Die Heimbewohnerin Blanquita kämpft hingegen mittellos gegen die Windmühlen der Justiz – angetrieben durch Wut, die Erfahrung der Erniedrigung und Rache. Eingeschüchtert und klein steht sie neben massiven Holzschränken gefüllt mit Büchern oder sitzt eingesunken in Sofas.
In einer der ersten Szenen, als sie vor einer Anwältin den angesehenen Senator Enrique Vasquez beschuldigt, prallt sie mit ihren Anschuldigungen ab. „Ausgeschlossen – ich kenne diesen Mann gut“, antwortet die Juristin abgehoben und kühl.
Blanquitas Stimme ist die einer Misshandelten aus deprivierten Verhältnissen, die quasi keinerlei Schutz und Chance gegen die Machtstrukturen hat. Die Einstellungen zeigen sie mal ungeschminkt und fast transparent wirkend, mal schrill geschminkt und aufgebrezelt oder zigfach gedoppelt im Spiegel oder immer wieder verzerrt.
Exzellente Hauptdarstellerin
Laura López verkörpert diese fragile Figur, die durch den erlebten Missbrauch nachhaltig in ihrer Entwicklung gestört ist. – Ein Teenager, dem, zu früh Mutter geworden, gänzlich der gesellschaftliche und soziale Halt fehlt und der dadurch nahezu unfähig ist, zu vertrauen und Bindungen aufzubauen.
Trotz massiver Einschüchterungen hält Blanquita an ihren Aussagen gegen den Clan fest und wird von allen Seiten misstrauisch beäugt. Allein ein Geistlicher, Pater Manuel, unterstützt sie.
Dieser setzt sich ähnlich wie einst Oscar Romero, als Stimme der Unterdrückten, für sie ein, stellt sich hinter sie und erntet damit Todesdrohungen. „Die guten Lügen sind mit Wahrheiten bewaffnet“(„Las buenas mentiras se arman con verdades“), rät er Blanquita. Die Innenräume seiner Kirche werden im Film mit Schmähungen beschmiert.
Regisseur Guzzoni wirft einen souveränen Blick auf die chilenische Gesellschaft.
Nachwehen der Pinochet-Ära
Auch noch Jahrzehnte nach der Diktatur Augusto Pinochets halten die Mächtigen innerhalb von Santiago de Chiles rechten Politikerkaste eisern zusammen. Gegen sie, als Mittellose, Gerechtigkeit durchzusetzen, ist fast aussichtslos.
Trotz des bisweilen überstrapazierten Stilmittels nebliger Einstellungen, beeindruckt der Film durch sein Drehbuch, nicht zuletzt durch die Doppelbödigkeit der Figur der Blanquita, exzellent verkörpert durch Laura López.
Blanquita. Drehbuch und Regie: Fernando Guzzoni. Drama. Chile, Mexiko, Luxembourg, Frankreich, Polen. 98 Minuten. Im Ciné Utopia und im Ciné Scala Dikrich.