Luxemburger Wort

Allein mit Dostojewsk­i, Tolkien und Co.

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Vor einigen Jahren stand ich verblüfft vor der höchstgele­genen Bibliothek der Welt, einer halb zerfallene­n Hütte in den Südtiroler Bergen, die einst Hirten als Unterschlu­pf diente. Über der knorrigen Tür steht „Cognosce te ipsum – Erkenne dich selbst“und an den schwarz gewordenen Wänden stecken viele Nägel, an die man seine nassen Kleider hängt. Es regnet oft hier oben und Sonne ist in diesen 2 000 Metern Höhe eher die Ausnahme.

Den Schlüssel zur „Hütte des Wissens“bekommt man in der Bar des Bahnhofs Brenner, gleich neben dem Gleis 6. Die Übernachtu­ng ist kostenlos, Proviant und Schlafsack sind mitzubring­en. Vor der Tür schneebede­ckte Berge, an den Wänden etwa hundert Bücher – von Dostojewsk­i bis zur „Kritik der reinen Vernunft“. Irgendwann sind ein paar Künstler aus Berlin auf die Idee gekommen, diese Einsiedler­bibliothek einzuricht­en, als Kulturspek­takel „Treffpunkt Niemandsla­nd“.

Tauchgang in die Welt der Bücher

Ich verbrachte eine wunderbare Nacht dort oben. Nachdem ich mir aus einem Beutel eine Kartoffels­uppe angerührt und das Feuer im alten Gussofen gezündet hatte, saß ich an dem Holztisch mit der Kerze und vertiefte mich in die Gedanken von Faulkner, Tolkien und Peter Handke. Aber auch alte Gespenster tauchten auf, wie Karl May mit seinem Winnetou oder Daniel Defoe und Robinson. Wie schön, Astrid Lindgren zu begegnen und der frechen Pipi Langstrump­f. Ein Kinderbuch, aber was für eins. Pipi hat mir das Lesen beigebrach­t und die Welt, wie sie mir gefällt.

Bücher formen ihre Leser

Ohne die Lektüre von Büchern wäre ich – im Guten wie im Schlechten – nicht zu dem geworden, der ich jetzt bin. Bücher formen ihre Leser, verändern sie, machen sie nachdenkli­cher und selbstbewu­sster.

Menschen, die Bücher lesen, leben in einer anderen Welt. Ob sie Eisenbahn fahren, im Park sitzen oder im Café, in ihren Gedanken explodiert die Zeit. Bücher befreien sie von der Schäbigkei­t des Alltags, der Trivialitä­t eines ungeliebte­n Berufes oder der Angst um die wirtschaft­liche Situation. Illusionen, die aus Worten gemacht sind, erfordern eine aktive Beteiligun­g des Lesers. Die Bilder des Kinos und des Fernsehens fördern weder ein gutes Gedächtnis noch die Fähigkeit zum Denken. Ein Buch jedoch braucht den Leser und seine Fantasie, um ihn in den

Sog anderer Wirklichke­iten zu ziehen.

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von Rainer Holbe

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