Der Ukraine-Konflikt – eine kritische Zwischenbilanz
Der Westen wirkt wie ein Akteur, der schlafwandlerisch von Stufe zu Stufe stolpert
Es gibt seltsamerweise eine Art von Beinahe-Konsens unter westlichen Politikern und Experten, der heißt: „Der Ukraine mehr Waffen zur Verfügung stellen, bedeutet weniger Blutvergießen, weniger Zerstörung und vor allem eine schnellere Beendigung des Krieges“. Ganz auszuschließen ist diese mögliche Folge von westlichen Waffenlieferungen nicht, aber sie ist doch sehr unwahrscheinlich: Sie beruht weder auf historischen noch auf logischen noch auf empirischen Erkenntnissen. Wahrscheinlicher ist das Gegenteil, nämlich, dass mehr Waffen höhere Verluste an Menschen und Material, eine Intensivierung und Ausweitung der Kämpfe und eventuell eine qualitative Eskalation zeitigen werden.
Alles Geschehen in einem Krieg ist geprägt von Ungewissheit. So kann man trotz könne, ohne gleichzeitig in den Krieg hineingezogen zu werden. Viele Europäer scheinen zu glauben, sie könnten auf Dauer sich aus der Ferne am Krieg beteiligen durch finanzielle Hilfe und Waffenlieferungen und gleichzeitig völlig unbehelligt ihr gewöhnliches Leben führen, höchstens etwas mehr für die Energiezufuhr bezahlen, doch all dies ohne ihren Lebensstil grundlegend ändern zu müssen. Dass sie immer näher, zwar nicht geografisch, aber politisch und vielleicht sogar militärisch an das Kriegsgeschehen heranrücken, dass die Gefahr, unmittelbar in den Krieg impliziert zu werden, ständig wächst, scheint nur wenigen bewusst.
Viele im Westen, nicht nur Politiker und Journalisten, auch sogenannte Experten, halten am Ziel eines ukrainischen Siegs als etwas Alternativlosem fest. Sie scheinen nicht begriffen zu haben, dass man eine nukleare Supermacht nicht militärisch besiegen kann, ohne gleichzeitig selbst besiegt, also vernichtet zu werden. Ein einigermaßen sinnvoller „Sieg“des de facto-Bündnisses Ukraine-NATO wäre also nur möglich, wenn Russland sich politisch geschlagen gäbe. Eine solche Niederlage aber ist aus russischer Sicht nicht hinnehmbar.
Wer im Westen von einer russischen Niederlage redet, sollte bedenken, dass für Russland in diesem Konflikt in manchen Hinsichten es um viel mehr geht als für den Westen. Mit anderen Worten: Es handelt sich, betrachtet man, was auf dem Spiel steht, um einen asymmetrischen Konflikt, da es für Russland ein „existenzieller Krieg“ist, wie sogar die dem Pentagon nahestehende Denkfabrik Rand Corporation einräumt (1). Russland dürfte folgerichtig bereit sein, viel mehr zu opfern als der Westen. Auch ein politischer Führungswechsel in Moskau würde an dieser Tatsache nichts ändern.
Schwächen und Versäumnisse
Der Ukraine-Konflikt entblößt unerbittlich die Schwächen Europas, seine Unfähigkeit, strategisch, langfristig, auch über den Krieg hinaus zu denken, also an die Lage Europas nach dem Krieg. Während der französische Präsident von der „strategischen Autonomie“Europas träumt, haben die Europäer durch ihr Verhalten in diesem Konflikt deutlich gemacht, dass es nicht den geringsten gemeinsamen Willen zu einer solchen Unabhängigkeit gibt, dass sie sich mehr denn je den amerikanischen Prioritäten und Präferenzen unterordnen. Dabei wäre gerade in diesem Konflikt eigenständiges europäisches Denken wichtig gewesen, denn der Konflikt berührt die USA nur am Rande, während er Europa politisch, ökonomisch, sozial ins Mark trifft. Eigentlich sind die USA schon dieses Krieges überdrüssig und sie wollen sich auf das aus ihrer Sicht Vitale konzentrieren, nämlich die Rivalität mit China, das Ringen um den Status des globalen Hegemons.
Die meisten europäischen Staaten wollen jetzt massiv in die Verteidigung investieren, das zu einer Zeit, wo ihr Sozialmodell am Bröckeln ist, wo immer tiefere Risse durch die Gesellschaft gehen, immer mehr Menschen unter die Armutsgrenze fallen.
Europa zahlt jetzt den Preis für seine Sorglosigkeit und Selbstgefälligkeit während der vielen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Statt sich zu bemühen, eine solide Sicherheitsordnung für ganz Europa zu schaffen, fuhr man fort, in bipolaren Kategorien zu denken und das westliche Militärbündnis, das ja auf kollektiver Verteidigung und damit auf der Existenz eines Antagonisten, ja eines Feindes beruht, immer näher an das russische Territorium heranzuführen.
Das schlimmste Szenario vermeiden
Jeder, der sich auch nur etwas mit Geschichte und Weltpolitik befasst, hätte erkennen müssen, dass hier irgendwann Eisen auf Eisen stoßen würde, dass Russland eine weitere Einschnürung nicht mehr hinnehmen würde. Die wenigen Stimmen, die vor dieser Entwicklung warnten, wie etwa die des „Vaters der Eindämmungsstrategie“, George Kennan (2), wurden übergangen oder gar belächelt. Sollte es für die Besonneneren unter den Europäern nicht beunruhigend sein, dass das politische und militärische Vorgehen weitgehend von russophoben Ländern wie Polen, den drei baltischen Staaten und dem stets kriegsfreudigen Großbritannien bestimmt wird?
Ist es nicht erstaunlich, wenn westeuropäische Politiker immer wieder betonen, man führe keinen Krieg gegen Russland? Eine solche Beteuerung ist blauäugig. Tatsächlich ist der Westen längst im Krieg mit Russland durch die massiven Waffenlieferungen, die militärische Beratung, die technologische Hilfe bei Aufklärung und Zielerfassung.
Viele Europäer scheinen zu glauben, sie könnten auf Dauer sich aus der Ferne am Krieg beteiligen durch finanzielle Hilfe und Waffenlieferungen und gleichzeitig völlig unbehelligt ihr normales Leben führen.