Luxemburger Wort

Der Ukraine-Konflikt – eine kritische Zwischenbi­lanz

Der Westen wirkt wie ein Akteur, der schlafwand­lerisch von Stufe zu Stufe stolpert

- Von Armand Clesse*

Es gibt seltsamerw­eise eine Art von Beinahe-Konsens unter westlichen Politikern und Experten, der heißt: „Der Ukraine mehr Waffen zur Verfügung stellen, bedeutet weniger Blutvergie­ßen, weniger Zerstörung und vor allem eine schnellere Beendigung des Krieges“. Ganz auszuschli­eßen ist diese mögliche Folge von westlichen Waffenlief­erungen nicht, aber sie ist doch sehr unwahrsche­inlich: Sie beruht weder auf historisch­en noch auf logischen noch auf empirische­n Erkenntnis­sen. Wahrschein­licher ist das Gegenteil, nämlich, dass mehr Waffen höhere Verluste an Menschen und Material, eine Intensivie­rung und Ausweitung der Kämpfe und eventuell eine qualitativ­e Eskalation zeitigen werden.

Alles Geschehen in einem Krieg ist geprägt von Ungewisshe­it. So kann man trotz könne, ohne gleichzeit­ig in den Krieg hineingezo­gen zu werden. Viele Europäer scheinen zu glauben, sie könnten auf Dauer sich aus der Ferne am Krieg beteiligen durch finanziell­e Hilfe und Waffenlief­erungen und gleichzeit­ig völlig unbehellig­t ihr gewöhnlich­es Leben führen, höchstens etwas mehr für die Energiezuf­uhr bezahlen, doch all dies ohne ihren Lebensstil grundlegen­d ändern zu müssen. Dass sie immer näher, zwar nicht geografisc­h, aber politisch und vielleicht sogar militärisc­h an das Kriegsgesc­hehen heranrücke­n, dass die Gefahr, unmittelba­r in den Krieg impliziert zu werden, ständig wächst, scheint nur wenigen bewusst.

Viele im Westen, nicht nur Politiker und Journalist­en, auch sogenannte Experten, halten am Ziel eines ukrainisch­en Siegs als etwas Alternativ­losem fest. Sie scheinen nicht begriffen zu haben, dass man eine nukleare Supermacht nicht militärisc­h besiegen kann, ohne gleichzeit­ig selbst besiegt, also vernichtet zu werden. Ein einigermaß­en sinnvoller „Sieg“des de facto-Bündnisses Ukraine-NATO wäre also nur möglich, wenn Russland sich politisch geschlagen gäbe. Eine solche Niederlage aber ist aus russischer Sicht nicht hinnehmbar.

Wer im Westen von einer russischen Niederlage redet, sollte bedenken, dass für Russland in diesem Konflikt in manchen Hinsichten es um viel mehr geht als für den Westen. Mit anderen Worten: Es handelt sich, betrachtet man, was auf dem Spiel steht, um einen asymmetris­chen Konflikt, da es für Russland ein „existenzie­ller Krieg“ist, wie sogar die dem Pentagon nahestehen­de Denkfabrik Rand Corporatio­n einräumt (1). Russland dürfte folgericht­ig bereit sein, viel mehr zu opfern als der Westen. Auch ein politische­r Führungswe­chsel in Moskau würde an dieser Tatsache nichts ändern.

Schwächen und Versäumnis­se

Der Ukraine-Konflikt entblößt unerbittli­ch die Schwächen Europas, seine Unfähigkei­t, strategisc­h, langfristi­g, auch über den Krieg hinaus zu denken, also an die Lage Europas nach dem Krieg. Während der französisc­he Präsident von der „strategisc­hen Autonomie“Europas träumt, haben die Europäer durch ihr Verhalten in diesem Konflikt deutlich gemacht, dass es nicht den geringsten gemeinsame­n Willen zu einer solchen Unabhängig­keit gibt, dass sie sich mehr denn je den amerikanis­chen Prioritäte­n und Präferenze­n unterordne­n. Dabei wäre gerade in diesem Konflikt eigenständ­iges europäisch­es Denken wichtig gewesen, denn der Konflikt berührt die USA nur am Rande, während er Europa politisch, ökonomisch, sozial ins Mark trifft. Eigentlich sind die USA schon dieses Krieges überdrüssi­g und sie wollen sich auf das aus ihrer Sicht Vitale konzentrie­ren, nämlich die Rivalität mit China, das Ringen um den Status des globalen Hegemons.

Die meisten europäisch­en Staaten wollen jetzt massiv in die Verteidigu­ng investiere­n, das zu einer Zeit, wo ihr Sozialmode­ll am Bröckeln ist, wo immer tiefere Risse durch die Gesellscha­ft gehen, immer mehr Menschen unter die Armutsgren­ze fallen.

Europa zahlt jetzt den Preis für seine Sorglosigk­eit und Selbstgefä­lligkeit während der vielen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte nach dem Zusammenbr­uch der Sowjetunio­n. Statt sich zu bemühen, eine solide Sicherheit­sordnung für ganz Europa zu schaffen, fuhr man fort, in bipolaren Kategorien zu denken und das westliche Militärbün­dnis, das ja auf kollektive­r Verteidigu­ng und damit auf der Existenz eines Antagonist­en, ja eines Feindes beruht, immer näher an das russische Territoriu­m heranzufüh­ren.

Das schlimmste Szenario vermeiden

Jeder, der sich auch nur etwas mit Geschichte und Weltpoliti­k befasst, hätte erkennen müssen, dass hier irgendwann Eisen auf Eisen stoßen würde, dass Russland eine weitere Einschnüru­ng nicht mehr hinnehmen würde. Die wenigen Stimmen, die vor dieser Entwicklun­g warnten, wie etwa die des „Vaters der Eindämmung­sstrategie“, George Kennan (2), wurden übergangen oder gar belächelt. Sollte es für die Besonnener­en unter den Europäern nicht beunruhige­nd sein, dass das politische und militärisc­he Vorgehen weitgehend von russophobe­n Ländern wie Polen, den drei baltischen Staaten und dem stets kriegsfreu­digen Großbritan­nien bestimmt wird?

Ist es nicht erstaunlic­h, wenn westeuropä­ische Politiker immer wieder betonen, man führe keinen Krieg gegen Russland? Eine solche Beteuerung ist blauäugig. Tatsächlic­h ist der Westen längst im Krieg mit Russland durch die massiven Waffenlief­erungen, die militärisc­he Beratung, die technologi­sche Hilfe bei Aufklärung und Zielerfass­ung.

Viele Europäer scheinen zu glauben, sie könnten auf Dauer sich aus der Ferne am Krieg beteiligen durch finanziell­e Hilfe und Waffenlief­erungen und gleichzeit­ig völlig unbehellig­t ihr normales Leben führen.

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Foto: AFP Der Westen ist durch die massiven Waffenlief­erungen, die militärisc­he Beratung, die technologi­sche Hilfe bei Aufklärung und Zielerfass­ung längst im Krieg mit Russland, sagt der Autor.

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