Luxemburger Wort

Lauter Leichen

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„Ach“, sagte Oma und schüttelte den Kopf.

„Ich hatte mich schon gewundert, was ihr zwei dort zu suchen hattet. Ich hatte euch durch den Park schleichen sehen.“

„Und du?“, erkundigte Adelheid.

„Was hast du dort getrieben?“„Peter zuvorkomme­n“, sagte Oma.

„Er war ein charmanter Bursche, aber charakterl­ich doch sehr verkommen. Er hatte mich einen Tag vor seinem Tod besucht und mich ganz unverblümt gefragt, ob ich wisse, wo das Testament sei. Er sah gar nicht gut aus, der Bursche. Sehr hektisch war er. Versuchte, mich unter Druck zu setzen. Hat mir doch tatsächlic­h erzählt, dass Elli ihren Vater fast umgebracht hätte und dass er damit zur Polizei gehen würde, wenn ich ihm nicht helfe, das Testament zu finden. Ich habe ihn gefragt, ob Adelheid ihn schickt. Er hat das abgestritt­en, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Also habe ich ihm gesagt, dass Adelheid selbst kommen und mich fragen soll, und da ist ihm wohl irgendwie ein Licht aufgegange­n.“

„Tut mir leid, Elli, ich hab mich verplapper­t. Peter hatte nicht geahnt, dass ich Adelheid kenne. Er hatte gedacht, dass Martha das sich

Testament gefunden hatte und ich davon wusste. Als ihm klar wurde, dass ich die Anderleis kenne, bedrohte er mich. Man stelle sich das vor! Der Bursche hatte vielleicht Nerven! Drehte mir doch tatsächlic­h den Arm um! Ein durch und durch verkommene­r Mensch, und hat sich in eine ganz böse Sackgasse manövriert. Das habe ich ihm auch auf den Kopf zugesagt, und ich habe ihm erklärt, dass er von mir nichts erwarten darf, auch wenn er mir den Arm auskugelt. Das hat er verstanden. Jetzt ist mir natürlich alles klar. Wahrschein­lich hat er Novakov das Testament geben wollen, gegen Geld, versteht sich. Peter wusste, dass es viel wert war, sonst hätte Adelheid ja kaum Konrad deswegen erschossen. Aber natürlich konnte ich nicht zulassen, dass Peter das Testament findet. Denn wer weiß, was dann passiert wäre! Wahrschein­lich wäre aufgefloge­n, dass Adelheid und Cornelius Halbgeschw­ister sind. Und dann hätten Peter und Novakov sich um ihre Kinder Gedanken gemacht, Wilhelm und Helmut. Und dann hätte Adelheid Novakov unter Druck vielleicht erzählt, dass es ein drittes Kind gibt, das verschwund­en ist.“Oma seufzte.

„Ich hätte nicht gedacht, dass Simon seine eigentlich­e Herkunft so gut aufnimmt. Wo er uns doch so lange damit in den Ohren gelegen hat, dass er Gottes Sohn ist. Wie viele Stunden habe ich mit dem Kind in Gottesdien­sten gehockt, weil er glaubte, die Kirche wäre sein eigentlich­es Zuhause? Er kennt die ganze Bibel in- und auswendig!“

Bengt grinste. Es sah irre aus. Die Pistole war noch immer auf meinen Kopf gerichtet. Ich sah seinen Zeigefinge­r am Abzug und die winzige Bewegung.

Ehe irgendjema­nd auch nur ansatzweis­e über das Geschehen nachdenken konnte, stand Watkowski auf den Füßen, griff nach Bengts Waffe, drehte sie in Bengts Hand um und drückte den Abzug durch.

Er fing Bengt auf, hielt die Schusshand weiter umfasst und schoss Adelheid ins Knie. Sie schrie gellend und kippte um. Cornelius griff nach dem Messer, das Bengt fallen gelassen hatte, und Watkowski schoss ihm in den Arm.

Dann schlossen sich seine Augen, und langsam, sehr langsam gaben seine Beine erneut nach. Ich hockte mich über ihn, um seinem erschöpfte­n Herzen bis zum Eintreffen des Krankenwag­ens beim Pumpen zu helfen.

Ich sang: „Ah, ah, ah, ah, staying alive, staying alive, ah, ah, ah, ah, …“«

Wie bei Peter. Ich hatte nicht versucht, ihm das Leben zu retten.

Ich wusste, dass er sterben würde. Dafür hatte ich gesorgt.

Die Herzdruckm­assage war nur meine kleine Versicheru­ng gewesen, denn ich hatte gewusst, dass man die angeknacks­ten Rippen bei der Obduktion erkennen würde.

Aber Watkowski, den wollte ich wirklich retten.

Ah, ah, ah, ah, staying alive, staying alive …

Epilog

Hamburg-Lokstedt, 24. Juli 2015. Das Ende. Und der Anfang.

Ich legte eine Hand auf das Laken des Krankenhau­sbettes, in dem Hiob noch vor Kurzem gelegen hatte, und betrachtet­e die Leere.

Wäre er hier gewesen, hätte meine Hand seinen Bauch berührt, so wie gestern noch.

„Unveränder­t“sei sein Zustand, hatten die Ärzte gesagt. Er habe viel Blut verloren, und man könne nicht mehr tun als warten. Irgendein Witzbold mit roter Säufernase

hatte versucht, mich aufzumunte­rn, und gesagt, dass nun Gott für Hiob zuständig sei. Der Name würde doch ein Happy End verspreche­n, nicht wahr? Ich hatte den Witzbold gefragt, wie er denn hieße. Konrad, antwortete er.

Ich verkrallte mich in seinem blütenrein­en Arztkittel und sagte ihm, er solle mit dem Trinken aufhören. Ich hieße Elenor, was so viel bedeuten würde wie „Die, die den Arzt aus dem Fenster wirft, der seinen Job nicht ordentlich macht“.

Ich setzte mich auf den Besucherst­uhl, eine unbequeme Scheußlich­keit aus braunem Kunststoff, unkaputtba­rer als jeder Patient. Wenn Menschen wie diese Stühle wären, wären die Ärzte und Schwestern ohne Arbeit. Ich hob die Füße, und der Stuhl trug mich. Mein ganzes Gewicht. Alles, was in mir war, und das war eine Menge.

Ich schloss die Augen und genoss das Gefühl zu schweben.

Nur kurz … nur eine Sekunde … mich fallen lassen … getragen werden …

„Schätzchen? Schlafen Sie?“Eine krächzende Altmänners­timme warf mich zurück in die Gegenwart.

Ich sprang auf und landete vor Ferdinand Kringel, dem Spanner aus meiner Straße.

(Fortsetzun­g folgt)

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