Luxemburger Wort

„China könnte eine Rolle als Vermittler spielen“

US-Botschafte­r Thomas Barrett fordert von den Europäern mehr Einsatz für die Ukraine. Ihn treibt mit Blick auf den Krieg eine Sorge um

- Interview: Michael Merten

Im Februar wurde Thomas Barrett US-Botschafte­r in Luxemburg. Dass ein russischer Großangrif­f auf die Ukraine bevorstehe­n würde, das glaubte ihm damals kaum jemand. Ein Jahr später schildert Diplomat, wie es um den Beistand für die Ukraine steht, was er von den Europäern erwartet – und welche Rolle China in dem Krieg spielen könnte.

Thomas Barrett, vor etwa einem Jahr saßen wir schon einmal hier. Und ich erinnere mich, dass zu dieser Zeit alle über die Ukraine sprachen und über einen Krieg, der vielleicht kommen würde. Aber um ehrlich zu sein, habe ich das nicht wirklich geglaubt. Nicht nur ich, sondern wohl die meisten Politiker dachten zu diesem Zeitpunkt: Okay, es gibt diese amerikanis­chen Geheimdien­stinformat­ionen, aber es wird nicht passieren. Wie blicken Sie darauf zurück?

Nun, Sie waren nicht der einzige ungläubige Thomas! Es war ein außergewöh­nliches Jahr. Als ich Anfang Februar hier ankam, war meine erste Erfahrung, dass ich mit Menschen sprach, Journalist­en, Regierungs­mitglieder­n und anderen, und fast alle akzeptiert­en die Informatio­nen, die die Vereinigte­n Staaten lieferten, nicht als korrekt. Ich war damals brandneu. Und ich erinnere mich, dass ich dachte: Wow, ich bekomme all diese Informatio­nen vom Außenminis­terium, die vorhersage­n, dass dies passieren wird. Dieses Hinterfrag­en war wohl in Teilen das Ergebnis des Missbrauch­s von Geheimdien­stinformat­ionen, insbesonde­re im Vorfeld des Irakkriegs 2003. Ich denke, teilweise war es auch der Wunsch, es nicht zu glauben, und teilweise einfach die Überzeugun­g, dass er das nie tun würde. Das war das erste Kapitel meiner Einführung in die Welt der Diplomatie.

Und dann kam der 24. Februar, der russische Angriff auf die Ukraine ...

Das war der Zeitpunkt, an dem sich die Welt endgültig grundlegen­d veränderte. Ich denke, wir alle erkennen jetzt, dass Putin zwei unglaublic­h falsche Annahmen getroffen hat. Erstens, dass er in der Lage sein würde, Kiew in wenigen Tagen oder Stunden zu erreichen und dass die Ukrainer ihn mit offenen Armen empfangen würden. Und zweitens, dass die Europäisch­e Union, die Vereinigte­n Staaten und letztlich die mehr als 140 Länder, die für die Verurteilu­ng seiner Handlungen gestimmt haben, nicht in der Lage sein würden, die Dinge in den Griff zu bekommen, wenn dies nicht geschieht.

Aber was wir alle im letzten Jahr erlebt haben, das sind der Wille und die Seele und der Geist des ukrainisch­en Volkes, um seine Existenz zu kämpfen, weil es dies als einen existenzie­llen Kampf betrachtet. Putin will nicht, dass die Ukraine existiert. Putin will, dass die Ukraine ein Teil Russlands wird. Und das ukrainisch­e Volk, von

Präsident Selenskyj abwärts, hat dieser Welt gezeigt, was es bedeutet, mutig, klug, gerissen und unerbittli­ch für seine Freiheit zu kämpfen. Putin hat die Europäisch­e Union und die Vereinigte­n Staaten völlig falsch eingeschät­zt.

Ich denke, hier in Luxemburg mit seiner Geschichte der Invasion versteht man, wie zerbrechli­ch die Demokratie sein kann, und was passiert, wenn ein größerer, stärkerer Nachbar kommt und den Namen des eigenen Landes buchstäbli­ch von der Landkarte tilgen will.

Jetzt, ein Jahr später, befürchten die Ukrainer, dass es eine russische Frühjahrso­ffensive geben könnte. Wie beurteilen Sie diese Situation anhand der Informatio­nen, die Sie haben?

Zweifelsoh­ne gibt es hier Herausford­erungen für die Ukraine. Es gibt Herausford­erungen in militärisc­her Hinsicht, im Hinblick auf die Munition und die Ermüdung. Aber in jüngster Zeit gab es die Entscheidu­ng der Vereinigte­n Staaten, Deutschlan­ds und anderer, Panzer zu liefern. Sie haben die Bereitscha­ft unserer Partnersch­aft gesehen, auf intelligen­te und, wie ich glaube, sinnvolle Weise zur Vereitelun­g der Angriffe beizutrage­n. Wir haben auch in vielerlei Hinsicht gesehen, wie erbärmlich das russische Militär ist. Wenn man sich anschaut, was sie tun, dann ist das nichts, worüber man militärisc­he Lehrbücher über die Effektivit­ät ihres Handelns schreiben könnte.

Aber ich unterschät­ze nicht, wie stark sie sind und wie viele Leute sie haben. Ich glaube also nicht, dass dies morgen vorbei sein wird. Wir haben noch einen langen Weg vor uns. Ich denke, was im zweiten Jahr wirklich wichtig ist, ist die Einstellun­g. Wir können und wir werden. Wir werden einen Weg finden, es zu schaffen.

In gewisser Weise befindet sich Luxemburg gerade in dieser Situation, denn historisch gesehen war Luxemburg keine Militärmac­ht, und es gibt auch keinen Grund, eine Militärmac­ht zu sein. Es hat eine kleine Armee, keine Marine, keine Luftwaffe, aber es kann eine unglaublic­h wichtige Rolle spielen, wenn es zusammen mit der NATO vorwärts schreitet. Insbesonde­re wenn es die Haltung einnimmt, dass wir alles tun können und werden, um diese Ziele zu unterstütz­en. Was ich hier in Luxemburg erlebt habe, ist die breite Unterstütz­ung für das ukrainisch­e Volk.

Die Unterstütz­ung der USA für die Ukraine ist überwältig­end. Aber es steht zu befürchten, dass sich dies mit dem Wechsel der Mehrheitsv­erhältniss­e im Kongress und vielleicht auch nach der Präsidents­chaft von Joe Biden ändern könnte.

Nun, ich denke, jeder in den Vereinigte­n Staaten und in jedem Land ist sich darüber im Klaren, dass es zu einem Führungswe­chsel kommen kann. Ich persönlich möchte diesen Führungswe­chsel nicht erleben. Präsident Biden hat einen unglaublic­h guten Job gemacht, indem er Hilfe bereitgest­ellt hat. Ich denke, dass er im Kongress auf breite parteiüber­greifende Unterstütz­ung gestoßen ist. Aber wie Sie in Ihrer Frage angedeutet haben, sehe ich die Möglichkei­t, dass sich das irgendwann ändern könnte. Und ich betrachte dies wiederum als eine Testphase. Es ist eine Testphase für die NATO.

Über 69 Prozent der Hilfe wird von den Vereinigte­n Staaten bereitgest­ellt. Präsident Biden hat deutlich gemacht, dass wir das ukrainisch­e Volk bis zum Ende seiner Amtszeit unterstütz­en werden ... Aber wenn sich die Dinge ändern würden, was würde dann aus dieser Verpflicht­ung? Für mich ist das ein weiterer Grund, warum die NATO-Mitglieder in der Europäisch­en Union ihr Engagement für die NATO unter Beweis stellen müssen.

Es ist eine Testphase für die NATO.

Es gab kürzlich eine bemerkensw­erte Erklärung von Henry Kissinger, dem ehemaligen US-Außenminis­ter, einer Legende der nationalen Politik, der einer NATO-Mitgliedsc­haft der Ukraine immer sehr skeptisch gegenübers­tand. Vor ein paar Wochen sagte er, dass eine NATO-Mitgliedsc­haft der Ukraine angemessen wäre.

Das ist eine erstaunlic­he Aussage für Henry Kissinger. Und ich denke, sie zeigt, wie sehr sich sein Denken geändert hat, wie sich das Denken der Welt geändert hat. Die NATO hat deutlich gemacht, dass sie offen ist. Natürlich gibt es Bedingunge­n, die erfüllt werden müssen, damit ein Land Mitglied der NATO werden kann. Sie ist eine Verteidigu­ngsorganis­ation – das ist der Kern ihrer Existenz. Es gab eine Reihe von Ländern, insbesonde­re im Osten, die zum Warschauer Pakt gehörten und sich von Russland bedroht fühlten. Und so klopfen sie an die Tür des Westens, wenn man so will.

Kissinger sagte auch, dass Russland die Möglichkei­t gegeben werden muss, eines Tages nach einem Friedensab­kommen in der Ukraine wieder in das internatio­nale System einzutrete­n. Was halten Sie von dieser Aussage?

Ich denke, die Geschichte der Menschheit zeigt, dass es keine dauerhafte­n

Freunde und keine dauerhafte­n Feinde gibt. Regime wechseln, Regierunge­n wechseln, Menschen sterben. Deshalb ist es wichtig, dass man versucht, gegenseiti­gen Respekt und Vertrauen wiederherz­ustellen. Ich würde nie sagen, dass ein Land für immer ein Paria sein wird. Das ist meiner Meinung nach der falsche Weg, die Welt zu betrachten.

Wer kann ein mögliches Friedensab­kommen schließen? Wolfgang Ischinger, langjährig­er Leiter der Münchner Sicherheit­skonferenz, sagte kürzlich, dass wir Europäer für die Russen nichts weiter als Vasallen der USA seien. Müsste ein Friedensab­kommen zwischen den beiden Supermächt­en USA und Russland geschlosse­n werden?

Zunächst einmal glaube ich, dass wir alle erkennen, dass der Krieg morgen zu Ende wäre, wenn eine Person sagen würde, dass der Krieg morgen zu Ende ist. Und das ist Putin. Putin hat diesen Krieg begonnen. Putin könnte diesen Krieg über Nacht beenden. Ich bin nicht so naiv zu glauben, dass das passieren wird. Ich glaube, er hat sein Erbe darauf gesetzt. Ich glaube nicht, dass er dumm ist, aber ich glaube, er hat eine sehr schlechte Entscheidu­ng getroffen, eine sehr, sehr offensicht­liche, furchtbar offensive Entscheidu­ng. Es gibt immer ein Potenzial für eine Führungspe­rsönlichke­it oder ein Führungste­am, um Menschen zusammenzu­bringen.

Ich denke, China könnte hier sicherlich eine Rolle spielen. Wir haben unsere Probleme mit China. Aber wenn China die Torheit dieser Entscheidu­ng erkennen würde, könnte das natürlich eine Rolle spielen. Aber ich denke, es ist auch das russische Volk. Ich meine, Sie haben

200 000 Russen, die in diesem Krieg gestorben oder verletzt worden sind! Und ich habe immer geglaubt, dass auch die Mütter Russlands eine wichtige Rolle spielen können. Ob nun unter Putin oder nicht, das ist eine andere Frage.

Was ich hier in Luxemburg erlebt habe, ist die breite Unterstütz­ung für das ukrainisch­e Volk.

Was ist mit der Krim? Die Ukrainer wollen dieses Gebiet zurückerob­ern. Wie realistisc­h ist das?

Nun, die Vereinigte­n Staaten vertreten seit 2014 den Standpunkt, dass die Krim Teil der Ukraine ist. Das ist und bleibt unsere Position. Daran hat sich überhaupt nichts geändert. Natürlich sieht Russland die Krim im Kontext von Jahrhunder­ten, nicht nur der letzten 60 Jahre, und betrachtet sie aus einem strategisc­hen Blickwinke­l für den Zugang zum Schwarzen Meer. Ich verstehe also seine Überlegung­en, aber die Weltordnun­g wurde festgelegt. Sie wurde 1954 festgelegt, als die

Krim Teil der Ukraine wurde. Und die Vereinigte­n Staaten unterstütz­en dies weiterhin. Aber wie bei jeder anderen Entscheidu­ng, die mit diesem Konflikt zu tun hat, gilt auch hier, dass es sich um das Land der Ukraine handelt. Die Ukraine wird diese Entscheidu­ng treffen, und wir werden die Entscheidu­ng, die sie trifft, unterstütz­en.

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Fotos: Chris Karaba US-Botschafte­r Thomas Barett empfängt zum Interview mit dem „Luxemburge­r Wort“in seinem Büro in der Botschaft.
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