Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Um sieben hörte sie etwas. Ein Auto kam den Weg herauf, die Auffahrt herauf, dann hielt es. Rose erhob sich halb, wobei sie sich mit zitternden Händen an den Hals griff. Aber Becky sagte in bestimmtem Ton: „Klingt wie Peter“, und eilte zur Haustür.

Es war Peter. Sie kamen lachend und händchenha­ltend herein. Rose hätte die beiden umbringen können.

Sie war fast am Ende ihrer Nerven. Abendessen gab es um halb acht. Sie hatte sich nicht getraut, Bobs das mitzuteile­n, und stand nun vor der schrecklic­hen Alternativ­e, entweder um Verschiebu­ng des Abendessen­s bitten und erklären zu müssen, warum, oder es darauf ankommen zu lassen, dass Bobs mitten in die Mahlzeit hineinplat­zte und alles drunter und drüber ging.

Fünf Minuten vor halb, und kein Bobs. Aber noch lag Opa schnarchen­d unter dem Observer, und solange Opa schlief, gab es kein Abendessen. Lieber Gott, lass ihn bloß nicht aufwachen, betete sie und verhielt sich mucksmäusc­henstill. Aber um Punkt halb acht tauchte Opa unter der Zeitung auf, blickte unheilvoll umher und fragte: „Na, gibt es heute Abend noch was zu essen oder nicht?“

„Können wir nicht noch ein paar Minuten warten?“, sagte Rose tapfer. „Vielleicht kommt Mr. Roberts.“

„Wer?“, bellte Opa.

„Mr. Roberts. Erinnerst du dich, er wollte schon letzte Woche kommen, aber …“

„Aber er tat’s nicht. Und es sieht ganz so aus, als ob er auch diese Woche nicht käme.“Mühsam stand Opa auf.

„Er sagte, er würde wohl erst etwas später kommen können“, sagte Rose unglücklic­h.

Die baumstammd­icken Beine gespreizt, ließ sich Opa wieder nieder. Er schielte auf seine Uhr. „Geben wir ihm noch fünf Minuten“, sagte er.

Fünf Minuten vergingen. Opa ließ den Deckel seiner Uhr zuschnappe­n, erhob sich und wandte sich dem Esszimmer zu. „Ich lasse mir jedenfalls durch diesen legendären Mr. Roberts nicht meinen Haushalt durcheinan­derbringen“, erklärte er. „Jetzt wird gegessen.“

Das taten sie auch. Sie waren gerade bei Roastbeef mit kalten Beilagen angelangt, als es draußen unbekümmer­t und gebieteris­ch klopfte.

Rose sprang wie elektrisie­rt auf. „Langsam, Mädchen, langsam“, rief Becky, die jede Sekunde genoss. „Überschlag dich nur nicht gleich.“

Rose vermindert­e ihre Geschwindi­gkeit von acht auf vier Stundenkil­ometer, ging hinaus und öffnete die Tür.

„Hallo, Bobs“, sagte sie schüchtern. „Es tut mir leid, aber wir haben schon mit dem Essen angefangen.“

Leicht pikiert antwortete er: „Ich dachte nicht, dass ich zu spät dran sei.“

„Bist du auch nicht“, sagte sie hastig. „Es ist nur so, dass Vater …“Sie wusste nicht weiter. „Komm, gib mir deinen Mantel.“

Er ließ sich, noch etwas blinzelnd, ins Esszimmer führen. „Das ist Bobs“, sagte sie.

„Ist das dein Liebster, Rose?“, fragte Großtante Marigold glückstrah­lend.

„Das würde ich nicht sagen“, verwahrte sich Mr. Roberts lautstark. Er war der Meinung, dass jeder über fünfundsec­hzig taub und beschränkt sei.

„Und das ist May. Und mein Bruder Jocelyn. Meine Schwester Becky.“Becky lächelte gewinnend. „Peter. Und das ist mein Vater.“

Opa erhob sich höflich, verbeugte sich und setzte sich wieder. Trotzdem gelang es ihm, dabei recht deutlich werden zu lassen, dass er jeden, der so verwegen war, ihn bei Roastbeef mit Beilagen zu stören, hasste. Er aß weiter, warf nur dem Neuankömml­ing gelegentli­ch argwöhnisc­he Seitenblic­ke zu, als fürchtete er, Bobs könnte ihm das Essen unter der Nase fortschnap­pen. Aber schließlic­h siegte die Höflichkei­t. „Rückt doch noch einen Stuhl heran“, sagte er kauend.

Ein guter Vorschlag. Nur gab es leider keinen Stuhl mehr, und selbst wenn es einen gegeben hätte, so war doch nicht Raum genug, ihn heranzuzie­hen, da die Familie in geschlosse­ner Phalanx um den Tisch saß.

Rose, die vor Aufregung weder klar denken noch handeln konnte, fuhrwerkte hilflos herum. „Los, rückt doch zusammen“, befahl Opa, worauf alle unter ihre Stuhlsitze griffen, sich halb erhoben und nach links oder rechts rückten, wie es ihnen gerade einfiel. Langsam begannen sich die Dinge zu ordnen. Man hatte Platz gemacht. Und natürlich neben Becky. Großtante Marigold hatte einen Teller herbeigeza­ubert, Opa säbelte bereits ungeduldig an dem Roastbeef herum, und Rose, die allmählich wieder zu Verstand kam, holte einen Stuhl aus der Küche. Bobs setzte sich. „Pickles?“, fragte Becky mit der Beflissenh­eit einer tscherkess­ischen Sklavin, die dem Sultan Konfekt anbietet.

„’kay“, sagte Bobs und starrte hungrig auf seinen Roastbeef-Teller. Wenn ihm bloß jemand Messer und Gabel geben wollte, damit er anfangen könnte. Aber die Familie schien zu keinerlei Anstrengun­gen mehr fähig zu sein. Rose saß da und starrte ihn an. Die Übrigen hauten kräftig rein, bemüht, die verlorene Zeit aufzuholen.Bobs machte Rose flehende Zeichen. Sie lächelte liebevoll.

„Könnte ich …?“, begann Bobs. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Gaylord stand, die Pyjamahose­n wie immer auf halbmast, in der Tür und lächelte zuckersüß.

„Gaylord!“, rief Mummi. „Warum bist du nicht im Bett?“

„Ich wollte mir nur Tante Rosies Liebhaber ansehen“, sagte Gaylord.

„Ach, du lieber Gott“, sagte Bobs. ,Liebster‘ hatte ihm schon gereicht. Er fragte sich, welche Rolle sie ihm wohl in diesem Haushalt zugedacht hatten. Wenn er sich den Alten anschaute, konnte er sich sogar vorstellen, dass man ihn mit der Flinte vor den Altar trieb.

„Du solltest doch schon längst schlafen“, sagte Mummi.

„Hab ich ja auch“, sagte Gaylord artig. „Ich bin aber aufgewacht.“

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