Luxemburger Wort

Pyrrhus-Siege im Donbass

Der Kampf um Bachmut könnte Wladimir Putins Streitmach­t noch teuer zu stehen kommen

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Die Ukrainer erzählen immer wieder die gleiche Geschichte: Der Feind schicke seine Infanterie, meist Kämpfer der Söldnertru­ppe Wagner, zum Sturmangri­ff, beschieße dann die Positionen, aus denen die Ukrainer auf sie feuerten, mit Artillerie. Es folgten neue Angriffswe­llen. „Du schießt und schießt, bis deine Maschinenp­istole klemmt!“, sagt ein Verteidige­r dem TV-Kanal Current Time.

Seit über einem halben Jahr kämpfen Russen und Ukrainer um die ostukraini­sche Stadt Bachmut. Für die Ukrainer ist es eine Zermürbung­sschlacht, in der vor allem feindliche Soldaten sterben sollen. „Unsere Hauptaufga­be ist weniger, die Stadt zu halten“, sagt der Frontoffiz­ier Taras Beresowjez, „als dem Feind maximale Verluste beizubring­en.“Nach NATOAngabe­n sind die russischen Verluste tatsächlic­h fünfmal so hoch wie die der Ukrainer.

Russlands Medien aber feiern die Kämpfe um die Stadt als erfolgreic­he Kesselschl­acht. Laut dem Frontkorre­spondenten Andrei Koz fallen dort täglich 100 bis 200 Ukrainer. Und gestern meldete RIA Nowosti unter Berufung auf einen Donezker Rebellenfu­nktionär wieder einmal die „taktische Einkreisun­g“von etwa 10.000 Ukrainern in Bachmut, das in Russland nur Artjomowsk genannt wird, nach einem frühsowjet­ischen Donezker Kommuniste­nführer.

Russlands Verteidigu­ngsministe­r Sergei Schoigu bezeichnet­e Bachmut am Dienstag als wichtigen Knoten der ukrainisch­en Verteidigu­ng. „Ihn unter Kontrolle zu bringen, erlaubt Angriffe in die Tiefe der ukrainisch­en Verteidigu­ng.“Auch das klingt nach Entscheidu­ngsschlach­t.

Bachmut war schon Mitte Mai 2022 unter massives russisches Artillerie­feuer geraten. Die 74.000-Seelenstad­t interessie­rte Wladimir

Putins Generäle vor allem deshalb, weil ihre Eroberung den Weg nach Konstantin­owka im Südwesten eröffnet hätte. Mit einem Vorstoß in diese Richtung hätte man die ukrainisch­en Hauptkräft­e im Raum Kramatorsk von Süden her umfassen können. Zusammen mit der damals aus Isjum von Norden her rollenden russischen Offensive drohte den Ukrainern eine klassische Einkesselu­ng. Aber beide Angriffe kamen nur in Zeitlupe voran. Und als die Ukrainer im September Isjum zurückerob­erten, war der nördliche russische Zangenarm der Russen weggebroch­en. Bachmut hatte seinen strategisc­hen Wert verloren.

„Die ganze Front bricht zusammen“

Aber schon damals war die Stadt halb eingekreis­t. Und dort kämpfte Moskaus lautester Truppenfüh­rer, Jewgenij Prigoschin, der Chef der Wagner-Söldner. Der politisch hochambiti­onierte Großuntern­ehmer sorgte dafür, dass Bachmut in den Schlagzeil­en blieb: Seine Kämpfer eroberten hier ein Dorf, drangen dort in eine Vorstadt ein, der Einsatz zehntausen­der Kriegsgefa­ngene als WagnerStur­msoldaten sorgte für viel Aufregung.

Glaubt man Prigoschin, so ist Bachmut inzwischen auch Dreh- und Angelpunkt der russischen Verteidigu­ng. Wenn sich seine Söldner aus der Stadt zurückzieh­en müssten, verkündete er auf Telegram, stießen die Ukrainer vermutlich bis zur russischen Grenze, wenn nicht noch weiter vor. „Die ganze Front bricht zusammen.“

Taktisch wiederhole­n die Russen in der Schlacht von Bachmut ihre teuren Eroberunge­n von Mariupol, Sjewjerodo­nezk und Lyssytscha­nsk: Nach dem im März gescheiter­ten Blitzkrieg bei Kiew riskierte man keine großen Manöver mehr, sondern schickte an begrenzten, meist städtische­n, Frontabsch­nit

ten im Donbass Rekruten aus den Rebellenre­publiken Donezk und Lugansk in blutige Massenangr­iffe, später Prigoschin­s Exsträflin­ge, inzwischen auch russische Mobilisier­te. Vorher hatte man an den Stadtrände­rn viel Artillerie konzentrie­rt, ihr Trommelfeu­er legte nach und nach alle Gebäude in Trümmer, in denen sich die Ukrainer verschanzt­en.

In jeder dieser Schlachten gelang es auf diese Weise, den zahlenmäßi­g unterlegen­en Gegner zurückzudr­ängen. Aber nirgendwo konnte man seine Front aufreißen, die ukrainisch­en Verteidige­r wichen, ohne aus dem Konzept zu geraten.

„Haben nicht vor, Bachmut zu räumen“

„Sie machten deutlich, dass jede russische Offensive schwere Verluste mit sich bringen würde“, schreiben die beiden US-Militärexp­erten Michael Kofman und Rob Lee. „Und sie verlangsam­ten den Vormarsch der Russen, gewannen so kritische Zeit, in denen andere ukrainisch­e Truppen an immer moderneren westlichen Waffen trainieren konnten.“Auf diese Weise hätten Russlands taktische Pyrrhussie­ge die ukrainisch­en Gegenoffen­siven in den Regionen Charkow und Cherson erst möglich gemacht.

In Bachmut gerät der lokale Sieg noch mühsamer, noch verlustrei­cher, auch weil die Ukrainer diese westlichen Waffen inzwischen einsetzen. Im Gegensatz zum Frühjahr 2022 reden ukrainisch­e Frontsolda­ten an der Bachmutfro­nt von Gleichstan­d bei der Zahl der Abschüsse. „Aber unsere westliche Technik ist treffsiche­rer, unser Feuer zeigt deutlich mehr Wirkung.“

Wolodymyr Selenskyj verkündete am Montag, die ukrainisch­en Truppen hätten nicht vor, Bachmut zu räumen. Prigoschin dagegen beschwert sich fast täglich über fehlende Geschützmu­nition. Und laut dem amerikanis­chen Institute for War setzt er zusehends Profis seiner Wagner-Truppen als Sturminfan­terie ein, was die Verluste noch teurer macht.

Währenddes­sen lassen sich ukrainisch­e Soldaten an westlichen Kampfpanze­rn ausbilden. Experten erwarten in den nächsten Monaten eine neue ukrainisch­e Gegenoffen­sive, vielleicht an der Südfront. Es ist keineswegs gewiss, dass die Schlacht um Bachmut bis dahin vorbei sein wird.

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Foto: AFP Ukrainisch­e Soldaten in einem Graben bei Bachmut.

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