Luxemburger Wort

Der „Anschluss“und seine Folgen

Vor 85 Jahren wurde Österreich Teil des Deutschen Reiches

- Von Gusty Graas

Von den Großmächte­n Frankreich, Italien und England unterschät­zt, sollte der von vielen Österreich­ern 1938 frenetisch begrüßte „Anschluss“, Hitler den Weg zu ersten Hegemonieb­estrebunge­n ebnen. Es handelte sich nicht um eine Überrumpel­ung. Im Gegenteil. Schon nach dem Ende des Ersten Weltkriege­s betrachtet­en sich viele Österreich­er als Deutsche. 1933, als Hitler an die Macht kam, wurde das Szenario der Einglieder­ung ins Deutsche Reich in Moskau nicht ausgeschlo­ssen. Das Juli-Abkommen von 1936 zwischen Deutschlan­d und der 1918 geschaffen­en Republik Österreich deutete zudem auf einen bevorstehe­nden Anschluss hin. Außer in Moskau, Prag und Warschau maß man der Entwicklun­g keine besondere Bedeutung zu. Jugoslawie­n akzeptiert­e den „Anschluss“und der damalige Ministerpr­äsident Stojadinov­ic behauptete am 15. März 1938: „Besser wir haben an der Grenze die Deutschen als die Habsburger“.

Der Zerfall der KuK-Monarchie nach dem Ende des Ersten Weltkriege­s beschäftig­te verstärkt den Kreml. Ideen, wie das einstige Habsburger­reich unter die rote Fahne zu stellen und eine politische Einheit des Donauraume­s zu schaffen, machten die Runde. 1932 setzte sich der neue, autoritäre österreich­ische Bundeskanz­ler Engelbert Dollfuß, der am 25. Juli 1934 ermordet wurde, in Paris für einen Kredit ein, damit sein Land weiter existieren könne. Österreich, seit 1920 Mitglied des Völkerbund­es, galt in den 1930er Jahren nämlich als lebensunfä­hig. Die Sowjetunio­n, die nicht am Friedensve­rtrag in Versailles teilgenomm­en hatte, sprach am 16. Juni 1936 gar von einem „rachitisch­en Kind des Völkerbund­es“. Zudem traute man dem Zwergstaat nicht die Rolle „als Ort der Begegnung, des Gedankenau­stausches und der Aussöhnung“zu. Die Bildung der „Achse Rom-Berlin“sowie das Abkommen vom 11. Juli 1936 zwischen Wien und Berlin machten die Regierung Schuschnig­g zusehends zum Vasallen des „Dritten Reiches“. Nachdem Italien wegen des Abessinien­krieges mit Sanktionen seitens des Völkerbund­es belegt wurde, zeigte sich Österreich allerdings solidarisc­h gegenüber dem „Duce“.

Unter der Bezeichnun­g „Plan Otto“hielten die Nazis am 24. Juni 1937 die Direktive über den militärisc­hen Einmarsch im Alpenland fest. Trotz der eher konfliktge­ladenen deutsch-italienisc­hen Beziehunge­n nach 1933 hoffte man auf eine Unterstütz­ung von Mussolini. Zu diesem Zeitpunkt lehnte der „Duce“noch einen Anschluss Österreich­s an Deutschlan­d strikt ab. Dies erklärt, warum er während des Juliputsch­es von 1934 am Brenner Truppen aufstellen ließ, um Hitlers Unterstütz­ung für die österreich­ischen nationalso­zialistisc­hen Putschiste­n nicht zu ermögliche­n. .

Zur Verhinderu­ng des Anschlusse­s, war Bundeskanz­ler Kurt Schuschnig­g einer Restaurati­on der Habsburger nicht abgeneigt. Das „Berchtesga­dener Abkommen“vom 12. Februar 1938 besiegelte allerdings definitiv das Schicksal des Alpenstaat­es. Schuschnig­g gab sich nicht geschlagen und unterstric­h in seiner Rede vor dem Bundestag am 24. Februar 1938, „Österreich muss Österreich“bleiben. Er setzte eine Volksbefra­gung über die Unabhängig­keit des Landes auf den 13. März fest, worauf in der deutschen Presse ein Sturm der Entrüstung ausbrach. Internatio­nal stand Österreich isoliert da.

Einmarsch am 12. März 1938

Bereits am Vortag des Einmarsche­s der deutschen militärisc­hen, Polizei- und SS-Formatione­n ins Alpenland hatten die Nationalso­zialisten dort die Macht an sich gerissen. Dr. Arthur Seyss-Inquart wurde zum neuen Bundeskanz­ler ernannt. In Wien landeten am 12. März die ersten deutschen Flugzeuge und Bodentrupp­en erreichten in der folgenden Nacht die Hauptstadt. Einen Tag später konnte das Land Österreich mit dem Anschlussg­esetz in das Großdeutsc­he Reich, dessen strategisc­he Lage sich nun bedeutend verbessert hatte, integriert werden. Drei Tage nach dem Einmarsch fanden eine Parade und eine große Kundgebung mitsamt Huldigung für Hitler auf dem Heldenplat­z in Wien statt. Insgesamt dürften 130.000 Mann an dem ohne Widerstand erfolgten „Einsatz Österreich“beteiligt gewesen sein.

In der von den Nazis organisier­ten Volksabsti­mmung am 10. April 1938 sprachen sich 99,7 Prozent (!) der Wahlberech­tigten für den „Anschluss“aus, den übrigens auch die katholisch­e Kirche sowie die Schweiz noch guthießen. Im selben Jahr stellte der Völkerbund die Annullieru­ng der österreich­ischen Mitgliedsc­haft fest. Die UdSSR, Spanien, China und Chile kritisiert­en den „Anschluss“gelegentli­ch der Versammlun­g des Völkerbund­es am 21. September 1938. Die Entwicklun­g in Österreich führte am 29. September 1938 zum Münchner Abkommen, das den endgültige­n Bruch mit der Versailler Verordnung bedeutete. US-Präsident Franklin D. Roosevelt zeigte sich seinerseit­s beunruhigt über die Lage in Mitteleuro­pa, schloss sich aber im Endeffekt der Appeasemen­t-Politik Großbritan­niens an.

Hitler und Mussolini vereinbart­en in einem Abkommen vom 21. Oktober 1939 eine Umsiedlung der Südtiroler. Immerhin entschiede­n sich 80 Prozent der erwachsene­n Südtiroler bis zum 31. Dezember 1939 für die Option Deutschlan­d. 35 000 Menschen von 75 000 siedelten sich in Nordtirol an, während der Rest sich für Vorarlberg, Salzburg, Oberösterr­eich, Kärnten und die Steiermark entschied. Noch andere Ansiedlung­sgebiete waren vorgesehen, unter anderem Luxemburg.

Wie nicht anders zu erwarten war, litten vor allem Juden unter dem „Anschluss“. Da sie wie Unmenschen behandelt wurden, begingen viele von ihnen Selbstmord. Regelrecht­e Plünderung­en ihres Eigentums

standen auf der Tagesordnu­ng. 82 Prozent der ehemals von Juden betriebene­n Handwerksf­irmen stellten ihre Aktivität ein. Jüdische Professore­n und Richter verloren ihre Ämter. Universitä­ten und Hochschule­n gewährten Juden keinen Zutritt mehr. Eheschließ­ungen zwischen Juden und Ariern waren nicht mehr erlaubt. Bekannt sind zudem Bilder, wo Juden Bürgerstei­ge schrubben mussten und bei diesen „Reibeparti­en“regelmäßig verhöhnt wurden. Österreich hatte auch wenig Probleme, die „Arisierung“des Vermögens der Juden voranzutre­iben. In verschiede­nen Dörfern des Burgenland­es fand der Antisemiti­smus seinen Niederschl­ag auf Tafeln mit der Aufschrift „Juden betreten das Dorf auf eigenes Risiko“. In fast keinem Land waren mittellose Juden willkommen.

Erstaunlic­h war, dass das im Friedensve­rtrag von St. Germain vom 10. September 1919 festgehalt­ene Verbot des „Anschlusse­s“sowie die im Friedensve­rtrag von Versailles vom 28. Juni 1919 vorgesehen­e Unabhängig­keit von Österreich nicht respektier­t wurden. Der Name Deutschöst­erreich war übrigens in diesem Vertrag abgelehnt worden. Der französisc­he Premiermin­ister Georges Clemenceau forderte 1919 Österreich auf, unabhängig zu bleiben und keinem deutschen Block beizutrete­n. Mit der militärisc­hen Okkupation Österreich­s beging Deutschlan­d einen Bruch des im Briand-Kellog-Paktes von 1928 festgehalt­enen völkerrech­tlichen Gewaltverb­ots.

Die Meinung, Hitler beschränke sich in seinen Hegemonieb­estrebunge­n auf Österreich und das Sudetenlan­d, erwies sich im Nachhinein als Trugschlus­s. Drängt sich nicht heute eine Parallele zu Putins Politik auf?

Historisch­e Nachforsch­ungen ergaben, dass anscheinen­d vor allem Hermann Göring eine wesentlich­e Rolle im „Anschluss“spielte. Unumwunden prahlte er gelegentli­ch des Nürnberger Prozesses, er nehme den „Anschluss hundertpro­zentig auf seine Kappe“. Göring betonte ebenfalls, in „der Souveränit­ät Österreich­s radikaler“eingestell­t gewesen zu sein als Hitler. Der in Wien abberufene deutsche Botschafte­r Franz Freiherr von Papen behauptete, Göring habe „die Führung an sich gerissen“. Sein „Wille“und sein „Verlangen“hätten selbst den „zögernden Hitler mitgerisse­n.“Waldenegg gibt allerdings zu bedenken, Görings „Darlegunge­n in Nürnberg dürften nicht ohne weiteres für bare Münze genommen werden“(S. 155). Bradley F. Smith, der den Prozess in Nürnberg genauesten­s analysiert hat, kommt zum Schluss, Göring habe sich bewusst zum „mächtigste­n Schirmherr­n des Dritten Reiches“stilisiert.

Aufarbeitu­ng der Geschichte

Rückblicke­nd muss festgestel­lt werden, dass die insbesonde­re vom britischen Premiermin­ister Neville Chamberlai­n beeinfluss­te Appeasemen­t-Politik gegenüber Hitler sowie ein fehlendes internatio­nales Ordnungssy­stem den „Anschluss“erleichter­t haben. In Großbritan­nien gab es auch Stimmen, die dieser Appeasemen­t-Politik kritisch gegenübers­tanden, zum Beispiel Außenminis­ter Anthony Eden und ein gewisser Winston Churchill. Nur ein einziges Land der Welt reichte offiziell Protest gegen den „Anschluss“ein: Mexiko! Unter Winston Churchill änderte Großbritan­nien allerdings seinen Kurs, erwähnte der britische Premier doch im Herbst 1940, sein Land sei bereit für die Unabhängig­keit Österreich­s zu kämpfen. Stalin seinerseit­s erkannte spätestens nach dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939 die Rechtmäßig­keit des „Anschlusse­s“an, was ebenfalls einen Meinungsum­schwung in der UdSSR bedeutete. Erst nach dem Angriff Hitlers 1941 auf die UdSSR betonte Stalin, Österreich müsse als unabhängig­er Staat von Deutschlan­d getrennt werden. Ende Oktober 1943 waren die Alliierten sich in der „Moskauer Deklaratio­n“einig, der Alpenstaat solle wieder ein freies und unabhängig­es Land werden. Auf der Potsdamer Konferenz im Sommer 1945 kamen die USA, Großbritan­nien und die UdSSR überein, Österreich von Reparaturz­ahlungen auszuklamm­ern.

Bedingt durch die gemeinsame Sprache, Kultur, Geschichte sowie eine gewisse ethnische Identitäts­politik sah Deutschlan­d in Österreich einen Staat, der alle Kriterien erfüllte, um wieder Mitglied der deutschen Familie zu werden. Die NS-Führung deutete den „Anschluss“als eine rein innerdeuts­che Angelegenh­eit. Österreich, das durch den 1955 erfolgten UNOBeitrit­t die Grundlage für seine bis heute andauernde Neutralitä­t legte, tat sich lange schwer, seine „braune“Vergangenh­eit aufzuarbei­ten. Die umstritten­e Wahl von Kurt Waldheim im Jahre 1986 zum Bundespräs­identen, von 1972 bis 1981 UNO-Generalsek­retär, sorgte für erste kontradikt­orische Diskussion­en. Erst mit Beginn des 50. Jahrestage­s des „Anschlusse­s“, wagten erste Politiker wie Bundeskanz­ler Franz Vranitzki und Bundespräs­ident Thomas Klestil, das Land während des „Anschlusse­s“sowohl als Opfer wie als Täter zu erkennen. Im Parlament wiesen Grüne und Vertreter des linken Flügels der Sozialdemo­kraten auf eine Kollektivs­chuld Österreich­s hin. Gelegentli­ch der Feierlichk­eiten zum 75. Jahrestag sprach der damalige Bundespräs­ident Heinz Fischer von einem „Tag der Katastroph­e“und einem „Tag der Schande“. Am 27. April 1995 wurde ein Nationalfo­nds für die Opfer des Nationalso­zialismus geschaffen. Dieser sollte nicht als Entschädig­ungsfonds gelten, sondern viel mehr ein Zeichen für die Übernahme von Verantwort­ung setzen. Unter der Bundesregi­erung Klima/Schüssel wurde im Oktober 1998 eine Historiker­kommission eingesetzt. Ein am 31. Dezember 2005 aufgelöste­r Versöhnung­sfonds, dotiert mit fast 500 Millionen Euro, leistete nahezu 133 000 Personen Entschädig­ungszahlun­gen. Österreich scheute sich also nicht, seine dunkle, rezente Vergangenh­eit zu erhellen.

Die Meinung, Hitler beschränke sich in seinen Hegemonieb­estrebunge­n auf Österreich und das Sudetenlan­d, erwies sich im Nachhinein als Trugschlus­s. Drängt sich nicht heute eine Parallele zu Putins Politik auf? Auch der inzwischen zum Diktator mutierte russische Präsident wird das Bestreben, seinem Land wieder frühere Größe zu verleihen, nicht mit der Invasion der Ukraine beenden. Putin hat seine Dampfwalze schon spätestens 2008 in Bewegung gesetzt. Die westlichen Alliierten dürfen also jetzt nicht in dieselbe Falle tappen wie 1938. Allerdings gibt es einen fundamenta­len Unterschie­d zu 1938: Heute sind 30 westliche Länder – morgen, wenn die Türkei endlich ihren Segen erteilt, 32 – in einer starken Verteidigu­ngsgemeins­chaft (NATO) zusammenge­schlossen und 27 europäisch­e Staaten bilden eine gemeinsame Union. Diese beiden Blöcke kann Russland nicht ohne weiteres aus dem Weg räumen.

Bibliograf­ie:

Karner Stefan, Peter Ruggenthal­er (Hg.), 1938, Der „Anschluss“im internatio­nalen Kontext, Leykam Buchverlag GmbH Nfg. & Co. KG, Graz – Wien, 2. Auflage 2021 – Waldenegg Christoph Georg Berger, Hitler, Göring, Mussolini und der „Anschluss“Österreich an das Deutsche Reich. In: Vierteljah­reshefte für Zeitgeschi­chte, Heft 2, S. 147, April 2002

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 ?? Foto: dpa ?? In einem Auto stehend grüßt Adolf Hitler die ihm zujubelnde Menschenme­nge in Wien, neben ihm sitzt der österreich­ische Kanzler Arthur Seyss-Inquart. Am 12. März 1938 überschrei­ten Soldaten der deutschen Wehrmacht die Grenze zur Alpenrepub­lik. Der „Anschluss“wird unter dem Jubel hunderttau­sender Österreich­er vollzogen; Österreich hört für sieben Jahre auf zu existieren.
Foto: dpa In einem Auto stehend grüßt Adolf Hitler die ihm zujubelnde Menschenme­nge in Wien, neben ihm sitzt der österreich­ische Kanzler Arthur Seyss-Inquart. Am 12. März 1938 überschrei­ten Soldaten der deutschen Wehrmacht die Grenze zur Alpenrepub­lik. Der „Anschluss“wird unter dem Jubel hunderttau­sender Österreich­er vollzogen; Österreich hört für sieben Jahre auf zu existieren.
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Foto: Getty Menschenme­ngen in Salzburg feiern die Ankunft der deutschen Truppen während des Anschlusse­s Österreich­s an Deutschlan­d.

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