Luxemburger Wort

Nord-Stream-Sabotage: Ein explosiver Verdacht

Journalist­en berichten von einer heißen Spur Richtung Ukraine – aber aus Kiew heißt es, man wisse von nichts

- Von Cornelie Barthelme (Berlin)

„Eine Art Kompliment“, sagt Olexij Resnikow. Für einen Verteidigu­ngsministe­r ist das ein außergewöh­nlicher Satz, erst recht für den der Ukraine nach mehr als einem Jahr Krieg und mitten in der Abwehrschl­acht um Bachmut, vielleicht auch schon kurz vor ihrem Ende, NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g warnt am Mittwochvo­rmittag vor der Gefahr, dass die ostukraini­sche Stadt „in den nächsten Tagen fällt“. Beim selben Treffen der EU-Verteidigu­ngsministe­r in Schweden wertet Resnikow als „Kompliment“, dass man seinem Ministeriu­m die Sabotage an den Gas-Pipelines Nord Stream 1 und 2 zutraut.

In der Nacht zum 26. September 2022 sind südöstlich der dänischen Insel Bornholm auf dem Grund der Ostsee drei der insgesamt vier Stränge der Pipelines durch Explosione­n mindestens beschädigt, wahrschein­lich sogar irreparabe­l zerstört worden. Der Anschlag ereignete sich auf dänischem und schwedisch­em Hoheitsgeb­iet. Die zwei Leitungen von Russland nach Deutschlan­d versorgen halb Europa mit Erdgas. Zum Betreiberk­onsortium gehören Unternehme­n aus Deutschlan­d und Russland, aus Frankreich, Großbritan­nien, den Niederland­en und Österreich.

Nun meldet am Dienstagna­chmittag ein Recherchet­eam von ARD und der Wochenzeit­ung „Zeit“, bei der Suche nach den Tätern führten Spuren in die Ukraine. Das wäre, sollte es sich bewahrheit­en, vielleicht nicht kriegsents­cheidend; könnte aber Einfluss auf dessen Verlauf haben. Denn bis auf Russland gehören alle vom Anschlag betroffene­n Nationen direkt oder via EU zu den Unterstütz­ern der Ukraine.

Im Stadium des Soll-so-gewesen-sein

Allerdings: Bislang ist, was ARD und „Zeit“melden, im Stadium des Sollso-gewesen-sein. Das Team bezieht sich auf Erkenntnis­se der deutschen Ermittler; zugleich recherchie­ren auch schwedisch­e und dänische Behörden und diverse westliche Geheimdien­ste. ARD und „Zeit“berichten also: Die deutschen Ermittler – im Auftrag der Generalbun­desanwalts­chaft, die das Verfahren führt, Bundeskrim­inalamt und Bundespoli­zei – hätten das Boot identifizi­ert, das „mutmaßlich für die Geheimoper­ation“verwendet worden sei. Es handle sich um eine Yacht, die eine Firma mit Sitz in Polen angemietet habe, die wiederum „offenbar“zwei Ukrainern gehöre.

Mit dem Schiff sei ein Team aus sechs Personen zu der Geheimoper­ation aufgebroch­en, fünf Männer und eine Frau. Ein Kapitän, zwei Taucher, zwei Tauchassis­tenten und eine Ärztin hätten den Sprengstof­f zu den Tatorten transporti­ert, wo er an den Leitungen in siebzig bis achtzig Metern Meerestief­e platziert worden sei. Gleich nach dem Anschlag hatten die deutschen Ermittler ausgerechn­et, die Sprengkraf­t der Explosione­n entspreche jeweils der von 500 Kilogramm TNT.

Sprengstof­fspuren auf dem Tisch

Von Rostock aus, so ARD und „Zeit“, sei das Team am 6. September 2022 in See gestochen. Seine Ausrüstung sei zuvor mit einem Lieferwage­n in den Hafen transporti­ert worden. Die Ermittler hätten die Yacht am folgenden Tag in Wieck auf dem Darß geortet und später bei der dänischen Insel Christians­ø, nordöstlic­h von Bornholm.

Der Eigentümer habe das Schiff in ungereinig­tem Zustand zurückerha­lten; auf dem Tisch in der Kabine hätten die Ermittler Spuren von Sprengstof­f nachweisen können. Ein westlicher Geheimdien­st habe bereits kurz nach den Explosione­n seine europäisch­en Partnerdie­nste darauf hingewiese­n, dass „ein ukrainisch­es Kommando“verantwort­lich sei. Später seien Hinweise auf „eine pro-ukrainisch­e Gruppe“eingegange­n. Die Nationalit­äten des Sechser-Teams seien unklar. Die Mitglieder hätten profession­ell gefälschte Reisepässe unter anderem für die Anmietung des Bootes eingesetzt.

Nur knapp vor den deutschen Medien hat bereits die „New York Times“(NYT) berichtet, die USA hätten Indizien dafür, dass „eine proukraini­sche Gruppe“für die Explosione­n verantwort­lich sei. Die „NYT“bezieht sich auf anonyme Quellen aus dem Washington­er Regierungs­apparat. Laut ihnen hätten die US-Ermittler deutlich gemacht, dass es weder Belege für eine Beteiligun­g des ukrainisch­en Präsidente­n Wolodymyr Selenskyj oder seiner engen Mitarbeite­r gebe – noch welche für eine der russischen Regierung. Außerdem schreibt die „NYT“noch, zur Beweiskraf­t der Informatio­nen wisse sie nichts – weil ihre Informante­n dazu nichts gesagt hätten.

Natürlich öffnet das Spekulatio­nen Tür und Tor. Und erzeugt Fragen en masse. Eine der offensicht­lichsten: Wie passen profession­ell gefälschte Pässe zu bestenfall­s amateurhaf­t beseitigte­n Spuren?

Kein Wunder, dass die Reaktionen allein bei Kriegspart­eien offensiv ausfallen. Aus Moskau heißt es, dies sei ein Versuch, von den wirklichen Drahtziehe­rn in der ukrainisch­en Regierung abzulenken. Aus Kiew twittert Präsidente­nberater Mychajlo Podoljak, obwohl er „amüsante Verschwöru­ngstheorie­n über die ukrainisch­e Regierung“liebe: „Mit den Pannen in der Ostsee“habe sie „nichts“zu tun – und wisse auch „nichts über pro-ukrainisch­e Sabotage-Gruppen“. Die deutsche Regierung hält sich mit Kommentare­n zurück. Verteidigu­ngsministe­r Boris Pistorius (SPD) verweist auf eine mögliche „False-Flag-Aktion“und nennt sie nicht weniger wahrschein­lich als die Theorie von der proukraini­schen Gruppe. Außerdem warnt er, wie auch Außenminis­terin Annalena Baerbock (Grüne), vor übereilten Schlüssen. Und natürlich ist das alles vor allem Beleg, für wie explosiv sie den Verdacht halten von der heißen Spur Richtung Ukraine.

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