Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
15
Am liebsten hätte er geantwortet: Hör mal zu. Weißt du, wie Faulkner die Aufgabe eines Schriftstellers definiert? ,Aus dem Material des menschlichen Geistes etwas zu schaffen, was vorher noch nicht existierte.‘ So entsteht ein Buch. Nicht, indem man abgedroschene Phrasen zusammenflickt. Aber er sagte es nicht. Onkel Ben hätte es doch nicht verstanden.
Rose glitt ins Zimmer. „Hallo, Herzchen“, schrie Tante Bea. Sie küsste Rose und hielt sie auf Armeslänge von sich wie einen Rock, den man daraufhin ansieht, ob er zur Reinigung muss. „Du siehst ein bisschen spitz aus, Liebes. Ben, findest du nicht auch, dass Rose ein bisschen spitz aussieht?“
„Ja“, sagte Ben, der mehr für das Mollige war und sowieso fand, dass die ganze verflixte Familie ein bisschen spitz aussah.
Wie ich Weihnachten hasse, dachte Rose. Alle gluckten zusammen, alle waren geradezu ekelhaft herzlich; vom Alkohol wurde ihr übel, und das fette Essen machte ihrer Galle zu schaffen. Und morgen würde Bobs kommen, und sie wusste jetzt schon, dass es ein schrecklicher Tag werden würde, weil Becky einfach nicht ihre Finger von ihm lassen konnte.
Als sie eben diese Überlegungen anstellte, betrat Becky die Szene. Sie war sanft, duftig, ganz rosa und weiß.
Sie hätte, in kleine Stückchen zerschnitten, wie Zuckerkonfekt ausgesehen. Sie trug ein hübsches blaues Kleid und zeigte viel von dem, was Gaylord in Gedanken ziemlich desinteressiert die Schlucht in Tante Beckys Brust nannte. „Hallo, Onkel Ben, da bist du ja“, rief sie.
Bis zu diesem Augenblick hatte die dumpfe Resignation der Familie sogar Onkel Ben etwas gedämpft; er wirkte, als habe man ihm die Luft herausgelassen. Jetzt aber sah er aus, als sei jemand dabei, ihn aufzupumpen. Seine Bäckchen rundeten sich sanft, er warf sich in die Brust und wuchs dadurch sichtlich in die Höhe.
In seinem Alter schätzte man die Nähe einer hübschen kleinen Nichte ganz besonders. Die einzige Gelegenheit, jemanden zu küssen, der unter fünfundsechzig war. „Becky“, schrie er erfreut und breitete weit die Arme aus.
Sie trippelte auf ihn zu und küsste ihn zärtlich, und er erwiderte ihren Kuss. Sein Benehmen war gerade noch onkelhaft zu nennen. „Riesig nett, dich zu sehen, Onkel Ben“, schnurrte Becky und rieb ihre Wange an der seinen. „Und auch dich, Tante Bea“, fügte sie mit der gedämpften Begeisterung hinzu, die sie dem eigenen Geschlecht entgegenbrachte.
Aber Tante Bea interessierte sich für etwas anderes. „Da kommt ja mein Zuckerbübchen“, rief sie aus und strahlte dabei Gaylord an, der unversehens ins Zimmer gestolpert war und leider zu spät erkannte, dass er nicht ebenso unversehens wieder hinausstolpern konnte. Verdrossen stand er da.
„Nein, was bist du gewachsen“, sagte Tante Bea. „Bald bist du so groß wie dein Onkel Ben.“
Gaylord schob die Unterlippe vor.
„Willst du deinem alten Tantchen keinen Kuss geben?“
Nicht, wenn er es irgendwie vermeiden kann, dachte Paps. Laut jedoch sagte er: „Nun, los schon, Gaylord.
Ein bisschen mehr gesellschaftlichen Elan.“Ihm selbst war das Ganze gleichgültig, aber Mummi hatte soeben das Zimmer betreten, und da erschien es angeraten, die Spielregeln einzuhalten. Doch das Schrillen des Telefons rettete Gaylord. Becky ging hin, dann hielt sie Rose den Hörer entgegen.
„Für dich, mein Schatz. Ein Mann.“
Rose flatterte aufgeregt zum Apparat. „Hallo, Rose?
Hier Bobs.“
„Hallo, Bobs.“Rose fühlte sich unter den zahlreichen interessierten Blicken wie auf einer Bühne.
„Rose, es tut mir wahnsinnig leid, aber ich glaube, ich kann morgen nicht kommen.“
Oh, nein. „Wirklich fragte sie traurig.
„Nein, dieser Freund von mir ist aufgetaucht. Du weißt doch.“„Welcher Freund?“
„Na, der Freund, mit dem ich im letzten Ferienkurs zusammen war. Er hat hier in der Nähe eine Panne mit seinem Motorroller gehabt. Und das kann erst nach den Feiertagen repariert werden. Da erinnerte er sich an mich und besuchte mich. Er schläft im Schlafsack auf dem Boden.“
„O Bobs, ich hatte mich so auf dich gefreut.“
Tut mir wirklich leid, altes Mädchen.Aber ich fürchte, ich bin etwas gebunden durch ihn.“Dabei klang es geradezu widerwärtig vergnügt.
Plötzlich kam ihr eine großartige Idee. „Bring ihn doch mit, Bobs. Wir freuen uns, deinen Freund kennenzulernen.“
Sie lauschte angstvoll in die darauffolgende Stille.
Vielleicht gab es gar keinen Freund mit Motorroller. nicht?“,
Vielleicht suchte Bobs nur nach einer Entschuldigung für sein Nichterscheinen. Da hörte sie seine Stimme: „Na ja, er ist eigentlich kein richtiger Freund. Überhaupt nicht mein Typ.“
„Du kannst ihn trotzdem mitbringen“, sagte sie.
„Okay. Aber er kommt ein bisschen schwer auf Touren. Redet nie, wenn man ihn nicht anspricht.“
„Macht nichts“, sagte sie. „Dann kommt ihr also?“
„Also schön!“, sagte er. „Auf Wiedersehen am Weihnachtsbaum.“Und hängte ein.
Sie legte den Hörer auf. Alle taten so, als hätten sie nicht zugehört. „Mr. Roberts bringt einen Freund mit“, erklärte sie gefasst. „Hoffentlich hat niemand was dagegen.“Er kam, alles andere zählte nicht.
„Und wer ist Mr. Roberts?“, fragte Bea, und in jeder Falte ihres teuren Tweedkostüms schien der Schalk zu sitzen.
„Tante Rosies Liebhaber“, erklärte Gaylord. „Rose, Liebes, gratuliere“, rief Tante Bea aufgeregt.
Es klang entzückt, was nett war, aber zugleich etwas erstaunt, was deprimierend war.
„Und was wird aus dem Küsschen“, fuhr sie fort, „das mein Zuckerbübchen seinem alten Tantchen geben wollte?“
(Fortsetzung folgt)