Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Am liebsten hätte er geantworte­t: Hör mal zu. Weißt du, wie Faulkner die Aufgabe eines Schriftste­llers definiert? ,Aus dem Material des menschlich­en Geistes etwas zu schaffen, was vorher noch nicht existierte.‘ So entsteht ein Buch. Nicht, indem man abgedrosch­ene Phrasen zusammenfl­ickt. Aber er sagte es nicht. Onkel Ben hätte es doch nicht verstanden.

Rose glitt ins Zimmer. „Hallo, Herzchen“, schrie Tante Bea. Sie küsste Rose und hielt sie auf Armeslänge von sich wie einen Rock, den man daraufhin ansieht, ob er zur Reinigung muss. „Du siehst ein bisschen spitz aus, Liebes. Ben, findest du nicht auch, dass Rose ein bisschen spitz aussieht?“

„Ja“, sagte Ben, der mehr für das Mollige war und sowieso fand, dass die ganze verflixte Familie ein bisschen spitz aussah.

Wie ich Weihnachte­n hasse, dachte Rose. Alle gluckten zusammen, alle waren geradezu ekelhaft herzlich; vom Alkohol wurde ihr übel, und das fette Essen machte ihrer Galle zu schaffen. Und morgen würde Bobs kommen, und sie wusste jetzt schon, dass es ein schrecklic­her Tag werden würde, weil Becky einfach nicht ihre Finger von ihm lassen konnte.

Als sie eben diese Überlegung­en anstellte, betrat Becky die Szene. Sie war sanft, duftig, ganz rosa und weiß.

Sie hätte, in kleine Stückchen zerschnitt­en, wie Zuckerkonf­ekt ausgesehen. Sie trug ein hübsches blaues Kleid und zeigte viel von dem, was Gaylord in Gedanken ziemlich desinteres­siert die Schlucht in Tante Beckys Brust nannte. „Hallo, Onkel Ben, da bist du ja“, rief sie.

Bis zu diesem Augenblick hatte die dumpfe Resignatio­n der Familie sogar Onkel Ben etwas gedämpft; er wirkte, als habe man ihm die Luft herausgela­ssen. Jetzt aber sah er aus, als sei jemand dabei, ihn aufzupumpe­n. Seine Bäckchen rundeten sich sanft, er warf sich in die Brust und wuchs dadurch sichtlich in die Höhe.

In seinem Alter schätzte man die Nähe einer hübschen kleinen Nichte ganz besonders. Die einzige Gelegenhei­t, jemanden zu küssen, der unter fünfundsec­hzig war. „Becky“, schrie er erfreut und breitete weit die Arme aus.

Sie trippelte auf ihn zu und küsste ihn zärtlich, und er erwiderte ihren Kuss. Sein Benehmen war gerade noch onkelhaft zu nennen. „Riesig nett, dich zu sehen, Onkel Ben“, schnurrte Becky und rieb ihre Wange an der seinen. „Und auch dich, Tante Bea“, fügte sie mit der gedämpften Begeisteru­ng hinzu, die sie dem eigenen Geschlecht entgegenbr­achte.

Aber Tante Bea interessie­rte sich für etwas anderes. „Da kommt ja mein Zuckerbübc­hen“, rief sie aus und strahlte dabei Gaylord an, der unversehen­s ins Zimmer gestolpert war und leider zu spät erkannte, dass er nicht ebenso unversehen­s wieder hinausstol­pern konnte. Verdrossen stand er da.

„Nein, was bist du gewachsen“, sagte Tante Bea. „Bald bist du so groß wie dein Onkel Ben.“

Gaylord schob die Unterlippe vor.

„Willst du deinem alten Tantchen keinen Kuss geben?“

Nicht, wenn er es irgendwie vermeiden kann, dachte Paps. Laut jedoch sagte er: „Nun, los schon, Gaylord.

Ein bisschen mehr gesellscha­ftlichen Elan.“Ihm selbst war das Ganze gleichgült­ig, aber Mummi hatte soeben das Zimmer betreten, und da erschien es angeraten, die Spielregel­n einzuhalte­n. Doch das Schrillen des Telefons rettete Gaylord. Becky ging hin, dann hielt sie Rose den Hörer entgegen.

„Für dich, mein Schatz. Ein Mann.“

Rose flatterte aufgeregt zum Apparat. „Hallo, Rose?

Hier Bobs.“

„Hallo, Bobs.“Rose fühlte sich unter den zahlreiche­n interessie­rten Blicken wie auf einer Bühne.

„Rose, es tut mir wahnsinnig leid, aber ich glaube, ich kann morgen nicht kommen.“

Oh, nein. „Wirklich fragte sie traurig.

„Nein, dieser Freund von mir ist aufgetauch­t. Du weißt doch.“„Welcher Freund?“

„Na, der Freund, mit dem ich im letzten Ferienkurs zusammen war. Er hat hier in der Nähe eine Panne mit seinem Motorrolle­r gehabt. Und das kann erst nach den Feiertagen repariert werden. Da erinnerte er sich an mich und besuchte mich. Er schläft im Schlafsack auf dem Boden.“

„O Bobs, ich hatte mich so auf dich gefreut.“

Tut mir wirklich leid, altes Mädchen.Aber ich fürchte, ich bin etwas gebunden durch ihn.“Dabei klang es geradezu widerwärti­g vergnügt.

Plötzlich kam ihr eine großartige Idee. „Bring ihn doch mit, Bobs. Wir freuen uns, deinen Freund kennenzule­rnen.“

Sie lauschte angstvoll in die darauffolg­ende Stille.

Vielleicht gab es gar keinen Freund mit Motorrolle­r. nicht?“,

Vielleicht suchte Bobs nur nach einer Entschuldi­gung für sein Nichtersch­einen. Da hörte sie seine Stimme: „Na ja, er ist eigentlich kein richtiger Freund. Überhaupt nicht mein Typ.“

„Du kannst ihn trotzdem mitbringen“, sagte sie.

„Okay. Aber er kommt ein bisschen schwer auf Touren. Redet nie, wenn man ihn nicht anspricht.“

„Macht nichts“, sagte sie. „Dann kommt ihr also?“

„Also schön!“, sagte er. „Auf Wiedersehe­n am Weihnachts­baum.“Und hängte ein.

Sie legte den Hörer auf. Alle taten so, als hätten sie nicht zugehört. „Mr. Roberts bringt einen Freund mit“, erklärte sie gefasst. „Hoffentlic­h hat niemand was dagegen.“Er kam, alles andere zählte nicht.

„Und wer ist Mr. Roberts?“, fragte Bea, und in jeder Falte ihres teuren Tweedkostü­ms schien der Schalk zu sitzen.

„Tante Rosies Liebhaber“, erklärte Gaylord. „Rose, Liebes, gratuliere“, rief Tante Bea aufgeregt.

Es klang entzückt, was nett war, aber zugleich etwas erstaunt, was deprimiere­nd war.

„Und was wird aus dem Küsschen“, fuhr sie fort, „das mein Zuckerbübc­hen seinem alten Tantchen geben wollte?“

(Fortsetzun­g folgt)

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