Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
17
Da gibt es noch ein anderes Wunder, dachte er. Diese Frau, die mir vor zehn Jahren noch vollkommen fremd war und jetzt Fleisch von meinem Fleische ist. Dieses Fleisch ist aber auch Geist, ist Lachen und Güte und Verständnis. Dieser Geist ist aber auch ein warmer, anschmiegsamer Leib.
Diese Frau ist, wie alle guten Frauen, Mutter, Freundin, Gefährtin, Geliebte. Eine Gnade.
„Komm ins Bett“, sagte sie. Er drehte sich mit einem zögernden, nachdenklichen Lächeln herum. Dann löschte er das Licht und ging zu Bett; von dort, wo er lag, konnte er die Sterne sehen, die sich vorm Fenster drängten, und den Lichtschein, dort, wo der Mond im Nebel versunken war.
Als Gaylord aufwachte, erfüllte ihn der Gedanke an Weihnachten mit gemischten Gefühlen. Vermutlich würde er den ganzen Tag damit verbringen müssen, Fluchtwege zu suchen, um bloß Tante Bea zu entgehen. In seinem ganzen Leben war ihm noch nie eine so unersättliche Küsserin begegnet. Normales Küssen akzeptierte er, wie Regen oder Auf-die-Toilette-Gehen, als kleinere Unannehmlichkeit. Aber bei Tante Bea fühlte er sich nicht mehr Herr der Lage. Man kommt in ein Zimmer, und schon sitzt sie da und wartet darauf, sich auf einen zu stürzen und einen wie ein großer, in Tweed gekleideter Bär zu umärmeln. Und warum musste sie immer „Hallo, Zuckerbübchen“sagen. Er hatte sich eine wohlüberlegte Retourkutsche ausgedacht: Hallo, Essigtantchen. Er fand das äußerst geistreich. Aber er wusste schon jetzt, dass Mummi es schlichtweg frech und vorlaut nennen würde. Und immer, wenn Gaylord etwas sagte, was von Mummi als frech und vorlaut bezeichnet wurde, kam er sich wie ein Schuft vor. Natürlich war das mächtig unlogisch, und er versuchte krampfhaft dagegen anzukämpfen. Aber es half nichts. Er kam sich eben wie ein Schuft vor.
Immerhin gab es im Augenblick nettere Dinge, an die er denken konnte. Am Fußende seines Bettes lag das aufregendste Ding, das jemals von den gefallenen Eva-Kindern erfunden worden war, ein Kissenbezug voller Weihnachtsgeschenke. Gaylord richtete sich auf, trampelte über sein Bett und entleerte den Bezug auf sein Federbett. Ein Apfel, eine Apfelsine, ein Glückspfennig, eine Zuckermaus und ein Dutzend verschiedene Päckchen.
Welches mochte wohl der Briefbeschwerer sein? Gaylord dachte, während er abwechselnd von dem Apfel und der Zuckermaus abbiss, angestrengt nach. Aber es war nicht zu erraten. Also fing er an auszupacken.
Eine Trommel. Vielversprechend. Ein Trommelwirbel am frühen Morgen in Opas Zimmer würde viel wirkungsvoller sein als das Aufziehen der Vorhänge.
Ein Stabilbaukasten. Gaylord war solchen Baukästen gegenüber immer etwas skeptisch. Niemals hatte man genug Einzelteile, um diesen Eiffelturm mit dem Licht oben bauen zu können.
Eine Trompete. Es wurde immer besser. Wenn er es fertigbrächte,Trompete und Trommel gleichzeitig zu bearbeiten und außerdem noch einen Überraschungseffekt zu erzielen, würde es ihm vielleicht gelingen, Opa eines Morgens doch ein: Gott verdammt, dass dich der Teufel hole, zu entlocken.
Ein kleines eisernes Pferdchen, dem oben aus dem Kopf zwei Büsche herauswuchsen. Es schien nichts weiter tun zu können. Absolut nichts. Weder konnte man es aufziehen noch konnte man es drücken, damit es quiekte. Er versuchte, es in der Badewanne schwimmen zu lassen. Es sank wie ein Stein. Was für ein dämliches Geschenk, dachte Gaylord. Konnte nur von Tante Bea sein.
Jetzt musste aber langsam der Briefbeschwerer kommen. So viele Päckchen waren gar nicht mehr übrig. Er wurde unruhig. Weder Gott noch Opa traute er einen Fehler zu, aber man konnte ja nie wissen. Fieberhaft riss er die restlichen Päckchen auf. Kein Briefbeschwerer.
Gaylord weinte nicht oft, und wenn, dann nur aus Gründen der Taktik. Aber jetzt weinte er ehrlich. Die Vorstellung, dass er jeden Augenblick Alleinbesitzer eines so blank polierten Wunders hätte sein können, war herrlich aufregend gewesen. Um diese Vision betrogen zu werden, war unerträglich. Er weinte hemmungslos.
„Gaylord weint“, sagte Mummi und stützte sich auf den Ellbogen. „Geh doch mal und sieh nach, was er hat.“
„Den Teufel auch“, sagte Paps, aus den Kissen auftauchend. „Fröhliche Weihnachten, Schatz.“Er gab ihr einen Kuss, rollte sich aus dem Bett, kletterte in Morgenrock und Hausschuhe und taumelte ins Kinderzimmer.
Ihm fiel ein, dass heute Weihnachten war und dass er die nächsten achtzehn Stunden herzlich und jovial zu sein hatte. Da konnte er ja gleich damit anfangen. „Was? Unser Gaylord in Tränen? Und das an seinem Hochzeitstag?“, scherzte er übertrieben munter, wie es sich für diese Sieben-Uhr-Morgen-Party gehörte.
Gaylord schniefte. „Ist gar nicht mein Hochzeitstag.“
Sein Gesichtchen heiterte sich etwas auf. „Oder doch?“, fragte er voller Hoffnung.
„Nicht so richtig“, gestand Paps. „Wir haben leider keine passende Braut für dich gefunden. Warum weinst du denn?“, fragte er.
„Ich habe keinen Briefbeschwerer bekommen“, sagte Gaylord.
„Doch, natürlich“, versicherte Paps voller Überzeugung. Verflixt, er hatte ihn doch selbst hineingesteckt.
„Wo denn?“, fragte Gaylord schmollend.
Paps begann, in dem Papierhaufen, in dem er und Gaylord bis zu den Knien standen, herumzuwühlen. Er fand den Hirsch. „Na, und was ist denn das?“, fragte er triumphierend.
„Keine Ahnung“, sagte Gaylord. „Was soll das denn sein?“
Paps seufzte. „Die Frage war rein rhetorisch.“
„Was ist rhetorisch?“
„Lass das mal jetzt“, lenkte Paps ein. „Das ist dein Briefbeschwerer.“Das ist aber kein Briefbeschwerer. „Das ist ein Pferd mit Bäumen.“