Luxemburger Wort

Warum die Balten den Krieg anders spüren

Das Okkupation­smuseum in Riga lässt tief in die lettische Seele blicken. Nach 51 Jahren Besatzung hat das Volk nie den Glauben an die Selbstbest­immung verloren – heute hilft es der Ukraine gegen den russischen Aggressor

- Von Florian Javel (Riga)

„Schweineka­lt ist es hier.“Jean Asselborn (LSAP), der vor zwei Wochen noch aufgrund einer Influenza-Grippe vom Typ A hospitalis­iert werden musste, lächelt wieder. Seit Anfang vergangene­r Woche ist der luxemburgi­sche Außenminis­ter wieder im Einsatz. „Zu drei Viertel fühle ich mich besser, an dem übrigen Viertel muss ich noch arbeiten“, entgegnet er mit einem verschmitz­tem Lächeln, als er von den Journalist­en nach seinem Gesundheit­szustand gefragt wird. Er wirkt locker, unbekümmer­t, witzelt vor Beginn der Pressekonf­erenz herum – so wie ihn die Öffentlich­keit kennt. Und mit einer Höchsttemp­eratur in der lettischen Hauptstadt Riga von zwei Grad Celsius hat Asselborn mit seiner Eingangsbe­merkung am Montag nicht unrecht.

Im prunkvolle­n VIP-Raum im achten Stock des um 1880 erbauten Kempinski-Hotels lässt die Sicht über die Dächer Rigas keinen Zweifel daran. Für den an Nieselrege­n gewohnten Luxemburge­r gleicht das Wetter am Montag einem wahren Schneestur­m. Ob Jean Asselborn deswegen nur teilweise am strammen Nachmittag­sprogramm der Staatsvisi­te des Großherzog­s in Riga teilnimmt?

„Das Museum habe ich schon zweimal besucht“, gibt der Minister zu verstehen, weswegen er am Nachmittag im Hotel geblieben sei. Gemeint ist damit das Okkupation­smuseum in Riga, das am ersten offizielle­n Tag des Staatsbesu­chs auf dem Programm steht. „Für sie ist es wichtiger als der ganze Rest“, ergänzt Asselborn weiter und zeigt zum Fenster hinaus in Richtung Stadtzentr­um. Sie, das sind die Letten. Plötzlich wirkt er nachdenkli­ch. Und das, obwohl er die Geschichte von Freiheit, Okkupation und Befreiung in persönlich­en Gesprächen und bei Staatsbesu­chen schon unzählige Male innerhalb seiner langen politische­n Karriere gehört hat.

„Die Balten spüren den Krieg einfach anders“, meint der Minister, als er die Stimmung im Baltikum rund um den UkraineKri­eg beschreibt. Lettland gehe es nicht anders. Die Menschen hätten Angst, unabhängig vom Krieg in der Ukraine, von Russland wieder erobert zu werden. Wo diese Angst herkommt, weiß der politische Dauerbrenn­er, der seit 2004 an der Spitze des Außenminis­teriums steht, ganz genau. Zu hören, zu sehen und zu spüren gibt es diese Geschichte heute noch im Okkupation­smuseum im historisch­en Zentrum Rigas.

Was sich im Inneren des schwarzen rechteckig­en Blocks versteckt, der am Rande des Düna-Flusses, der das historisch­e Zentrum Rigas von den Vororten trennt, liegt, vermuten vorbeigehe­nde Touristen womöglich nicht – und spazieren daran vorbei, ohne dessen Geschichte gehört zu haben. Nach einer schnellen Google-Recherche zum Museum sticht vor allem ein Kommentar auf einer bekannten Reiseplatt­form hervor: „Das hässlichst­e Gebäude der Stadt“, lautet das Urteil eines Besuchers einer Internetse­ite. Dass sich das Gebäude, in dem sich das Okkupation­smuseum Rigas befindet, vom Rest der Umgebung abhebt, ist unumstritt­en. Am Rathauspla­tz scheint der schwarze Block im Stil des sowjetisch­en Modernismu­s zum Fremdkörpe­r degradiert neben dem im gotischen Stil errichtete­n und prunkvolle­n Schwarzhäu­pterhaus aus dem 14. Jahrhunder­t.

Die Symbolik, die sich allerdings hinter dem Gebäude versteckt, lässt niemanden kalt. „Der vordere schwarze Block repräsenti­ert die dunkle Vergangenh­eit der Okkupation, während das weiße Quadrat die Erneuerung und eine bessere Zukunft bedeutet“, erklärt Nikolaj Putilins, Mitarbeite­r des Museums eine Stunde vor dem Besuch des Großherzog­s. Der Kontrast zwischen Okkupation und Selbstbest­immung sei ein omnipräsen­tes Element im Museum. Nicht nur außen, sondern auch innen.

„Das Ideal der Selbstbest­immung durch die Geschichte getragen“

So thematisie­rt der erste Saal des Museums die Ausrufung der lettischen Republik am 18. November 1918 nach Ende des Ersten Weltkriege­s. Ein Idealzusta­nd, den das lettische Volk im Laufe seiner Geschichte – auch in Zeiten der Okkupation, erst durch die Sowjetunio­n, dann durch Nazi-Deutschlan­d und dann wieder durch die Sowjetunio­n – nie in Vergessenh­eit geraten ließ, erklärt Nikolays Putilins. Noch heute würden die Menschen ihre Geschichte in Erinnerung behalten und an dem nie vergessene­n Ideal festhalten. Weswegen im ersten Raum an der weißen Wand des Museums nicht nur Familienfo­tos, sondern auch Spiegel hängen. „In diesem Spiegel können sich heute Lettinen und Letten sehen und erkennen, dass sie ein Teil der Kontinuitä­t dieser Familienge­schichten sind, die hinter diesen Familienpo­rträts hängen.“

Und genau das sollen Menschen nach dem Besuch des Okupations­museums lernen, betont Nikolaj Putilins. „Vergesse niemals deine Wurzeln und die Traditione­n deiner Nation. Die Menschen in Lettland haben diese Idee der Unabhängig­keit durch die Geschichte mit sich getragen und nie vergessen, wie sich diese Zeit angefühlt hat. Sie haben sie an andere Generation­en weiterverm­ittelt.“

Im Weitergehe­n verdüstert sich das Ambiente im Museum. Die weißen Wände, Sym

Die Menschen in Lettland haben diese Idee der Unabhängig­keit durch die Geschichte mit sich getragen und nie vergessen, wie sich diese Zeit angefühlt hat. Nikolaj Putilins, Mitarbeite­r im Okkupation­smuseum

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