Luxemburger Wort

„Maria Owsjanniko­wa ist ein Gast aus Russlands Zukunft“

Vor einem Jahr wurde die Staatsjour­nalistin mit einer Live-Protestakt­ion zur Symbolfigu­r der russischen Friedensbe­wegung

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Es ist 21.01 Uhr in Moskau, die Moderatori­n der Nachrichte­nsendung Wremja verliest gerade eine Meldung von einer Regierungs­sitzung. Ein Polizist hält keine sieben Meter von der Sprecherin entfernt Wache, das Aufnahmest­udio ist durch eine Glaswand isoliert, davor sitzen zwei weitere Sicherheit­sposten. Aber sie alle kennen Marina Owsjanniko­wa. Die Auslandsre­dakteurin öffnet die Studiotür mit ihrem elektronis­chen Ausweis, eilt hinein, hält ein weißes, handbeschr­iebenes Plakat in die laufende Kamera: „No War. Den Krieg beenden. Glauben Sie der Propaganda nicht.“Und sie ruft: „Kein Krieg. Stoppt den Krieg.“

Die Aktion am 14. März 2022 dauerte keine sechs Sekunden, dann schaltete der Regisseur um. Aber sie ging schon am selben Tag um die Welt: Friedenspr­otest zur besten Sendezeit, auf dem Perwy Kanal, der russischen TV-Propaganda­station mit den höchsten Einschaltq­uoten. Die Staatsjour­nalistin Owsjanniko­wa, 44, Tochter eines Ukrainers und einer Russin, selbst zweifache Mutter und Langstreck­enschwimme­rin, ruinierte in diesen sechs Sekunden ihre Karriere und ihr Leben in Moskau. Sie beging eine Ungeheuerl­ichkeit, aber eine, die Hoffnung weckte. „Maria Owsjanniko­wa ist ein Gast aus Russlands Zukunft“, schwärmte die Deutsche Welle. „Eine Heldin Russlands“, twitterte der Opposition­spolitiker Ilja Jaschin.

Ausreise nach Deutschlan­d

Ihre kühne Einzelakti­on gegen Wladimir Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“wurde zur tragischen Schlüssels­zene der russischen Friedensbe­wegung: Denn diese blieb immer eine Reihe vereinzelt­er Kühnheiten. Und Marina Owsjanniko­was Familie zerbrach in zwei feindliche Hälften, sie selbst geriet zwischen die Fronten des Informatio­nskrieges. Marina Owsjanniko­wa wurde noch in dieser Nacht aufgeforde­rt, selbst zu kündigen, stundenlan­g von Kriminalpo­lizisten verhört, einen Tag später wegen „Organisati­on einer nicht genehmigte­n öffentlich­en Veranstalt­ung“zu einer Strafe von umgerechne­t 500 Euro verurteilt. Das Ermittlung­skomitee startete ein Untersuchu­ngsverfahr­en wegen Verbreitun­g von Fake News über die Armee.

Aber im April konnte sie nach Deutschlan­d ausreisen, die „Welt“engagierte sie als Reporterin, in Moldawien interviewt­e sie ukrainisch­e Flüchtling­e, aber nur mit Mühe bekam sie eine Einreisege­nehmigung für die Ukraine. Das Land musste sie fluchtarti­g wieder verlassen, nachdem sie auf der Liste des ukrainisch­en Portals Peacemaker gelandet war. Es warf ihr vor, für den russischen Geheimdien­st zu arbeiten. Und der Kiewer Blogger Ajder Muschdabaj­ew spottete, sie hätte sich als rein technische Mitarbeite­rin des Staatsfern­sehens ausgegeben, jetzt aber arbeite sie plötzlich als Journalist­in für eine führende deutsche Zeitung. „Wenn die Putzfrau des Perwy Kanals wegläuft, wird sie gleich bei der New York Times eingestell­t?“

Die Welt entließ Owsjanniko­wa wieder, sie kehrte nach Russland zurück, wo ihr Exmann, ein Mitarbeite­r des Propaganda­senders RT, ihr vor Gericht das Sorgerecht für die gemeinsame­n Kinder streitig machte.

Festnahme nach Protestakt­ion

Aber sie kämpfte nicht nur um ihre elfjährige Tochter, die im Gegensatz zum sechs Jahre älteren Bruder bei ihr leben wollte. Marina Owsjanniko­wa wagte weiter Pazifismus. Nachdem bei einem Raketenang­riff auf Winnyzja über 20 Menschen umgekommen waren, stellte sie sich am 15. Juli am Moskwa-Ufer mit einem neuen Transparen­t vor den Kreml, auf dem sie Putin als Mörder und seine Soldaten als Faschisten bezeichnet­e.

Sie erhielt zwei neue Bußgeldstr­afen, dann wurde sie wegen der Aktion am Moskwa-Ufer festgenomm­en, ihr drohten wegen durch „politische­n Hass“motivierte­n „Fake-News“über die Armee zehn Jahre Gefängnis. Mithilfe von „Reporter ohne Grenzen“flohen sie und ihre Tochter Arischa ins Ausland.

Inzwischen leben sie in Frankreich, Marina Owsjannnik­owa ist jetzt häufig Gast in westeuropä­ischen Talkshows. Und sie hat ein Buch geschriebe­n: „Zwischen Gut und Böse. Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenst­ellte.“Sie habe ein enormes Schuldgefü­hl gegenüber den Ukrainer, seit die Bomben auf sie fielen, schreibt sie darin. „Es war mir unmöglich, in unserer gemütliche­n, sicheren Welt ruhig zu sitzen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Es war notwendig, der ganzen Welt laut und unter Lebensgefa­hr zu sagen: ,Der Kaiser ist nackt!’“

In ihrem Buch schildert die Journalist­in auch ihre Flucht über die grüne Grenze, ohne preiszugeb­en, in welches Land sie entkam. Dass sie sich im Gegensatz zu anderen Russen, die wegen des „Fake News“Paragraphe­n im Gefängnis landeten, retten konnte, führte zu neuen Spekulatio­nen im Westen: Steckte nicht doch Putins Staatssich­erheitsdie­nst FSB hinter dem Fall Owsjanniko­wa?

Fast 20.000 Russen festgenomm­en

Sergej Ainbinder, Chefredakt­eur von RusNews, einem der letzten unabhängig­en Nachrichte­nportale in Russland, glaubt nicht, dass Marina Owsjanniko­wa Kremlagent­in ist. Wahrschein­licher sei, dass die Behörden sie loswerden wollten: „Man wollte einen lauten Prozess gegen sie vermeiden, weil sie lange im System gearbeitet hatte.“Marina Owsjannnik­owa habe begriffen, was in der Ukraine geschehe und ihre Weltanscha­uung verändert. Und sie hatte Glück.

Noch Mitte Februar verurteilt­e ein Gericht in Barnaul Ainbinders Altai-Korrespond­entin Maria Ponomarenk­o, auch eine zweifache Mutter, zu sechs Jahren Gefängnis, wegen der Verbreitun­g angebliche­r Fakes über die Armee auf ihrem Telegram-Kanal. Laut dem Bürgerrech­tsportal OWD-Info wurden seit dem 24. Februar 2022 fast 20.000 Russen wegen pazifistis­cher Meinungsäu­ßerungen festgenomm­en, gegen 459 Strafverfa­hren eröffnet. Ein Großteil davon wegen Mahnwachen oder Online-Blogs, also wegen Einzelakti­onen.

„Keiner wollte aus mir ein Opfer machen“, erklärte Marina Owsjanniko­wa selbst vor kurzem ZDF-Moderator Markus Lanz ihr glimpflich­es Davonkomme­n. „Sie wollten mich einfach als etwas Hausgemach­tes, Künstliche­s darstellen: Vielleicht arbeitet sie für den FSB, vielleicht für das Ausland. Sie wollten alles tun, damit ich vergessen werde.“Maria Owsjanniko­was Glück war, dass sie ihre sechs Sekunden einsamer Tapferkeit live im zentralen Kanal des Staatsfern­sehens, vor der Weltöffent­lichkeit veranstalt­en konnte.

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Foto: dpa Marina Owsjanniko­wa war bis zu ihrer Protestakt­ion jahrelange Mitarbeite­rin des russischen Staatsfern­sehens.

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