„Maria Owsjannikowa ist ein Gast aus Russlands Zukunft“
Vor einem Jahr wurde die Staatsjournalistin mit einer Live-Protestaktion zur Symbolfigur der russischen Friedensbewegung
Es ist 21.01 Uhr in Moskau, die Moderatorin der Nachrichtensendung Wremja verliest gerade eine Meldung von einer Regierungssitzung. Ein Polizist hält keine sieben Meter von der Sprecherin entfernt Wache, das Aufnahmestudio ist durch eine Glaswand isoliert, davor sitzen zwei weitere Sicherheitsposten. Aber sie alle kennen Marina Owsjannikowa. Die Auslandsredakteurin öffnet die Studiotür mit ihrem elektronischen Ausweis, eilt hinein, hält ein weißes, handbeschriebenes Plakat in die laufende Kamera: „No War. Den Krieg beenden. Glauben Sie der Propaganda nicht.“Und sie ruft: „Kein Krieg. Stoppt den Krieg.“
Die Aktion am 14. März 2022 dauerte keine sechs Sekunden, dann schaltete der Regisseur um. Aber sie ging schon am selben Tag um die Welt: Friedensprotest zur besten Sendezeit, auf dem Perwy Kanal, der russischen TV-Propagandastation mit den höchsten Einschaltquoten. Die Staatsjournalistin Owsjannikowa, 44, Tochter eines Ukrainers und einer Russin, selbst zweifache Mutter und Langstreckenschwimmerin, ruinierte in diesen sechs Sekunden ihre Karriere und ihr Leben in Moskau. Sie beging eine Ungeheuerlichkeit, aber eine, die Hoffnung weckte. „Maria Owsjannikowa ist ein Gast aus Russlands Zukunft“, schwärmte die Deutsche Welle. „Eine Heldin Russlands“, twitterte der Oppositionspolitiker Ilja Jaschin.
Ausreise nach Deutschland
Ihre kühne Einzelaktion gegen Wladimir Putins „Kriegsspezialoperation“wurde zur tragischen Schlüsselszene der russischen Friedensbewegung: Denn diese blieb immer eine Reihe vereinzelter Kühnheiten. Und Marina Owsjannikowas Familie zerbrach in zwei feindliche Hälften, sie selbst geriet zwischen die Fronten des Informationskrieges. Marina Owsjannikowa wurde noch in dieser Nacht aufgefordert, selbst zu kündigen, stundenlang von Kriminalpolizisten verhört, einen Tag später wegen „Organisation einer nicht genehmigten öffentlichen Veranstaltung“zu einer Strafe von umgerechnet 500 Euro verurteilt. Das Ermittlungskomitee startete ein Untersuchungsverfahren wegen Verbreitung von Fake News über die Armee.
Aber im April konnte sie nach Deutschland ausreisen, die „Welt“engagierte sie als Reporterin, in Moldawien interviewte sie ukrainische Flüchtlinge, aber nur mit Mühe bekam sie eine Einreisegenehmigung für die Ukraine. Das Land musste sie fluchtartig wieder verlassen, nachdem sie auf der Liste des ukrainischen Portals Peacemaker gelandet war. Es warf ihr vor, für den russischen Geheimdienst zu arbeiten. Und der Kiewer Blogger Ajder Muschdabajew spottete, sie hätte sich als rein technische Mitarbeiterin des Staatsfernsehens ausgegeben, jetzt aber arbeite sie plötzlich als Journalistin für eine führende deutsche Zeitung. „Wenn die Putzfrau des Perwy Kanals wegläuft, wird sie gleich bei der New York Times eingestellt?“
Die Welt entließ Owsjannikowa wieder, sie kehrte nach Russland zurück, wo ihr Exmann, ein Mitarbeiter des Propagandasenders RT, ihr vor Gericht das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder streitig machte.
Festnahme nach Protestaktion
Aber sie kämpfte nicht nur um ihre elfjährige Tochter, die im Gegensatz zum sechs Jahre älteren Bruder bei ihr leben wollte. Marina Owsjannikowa wagte weiter Pazifismus. Nachdem bei einem Raketenangriff auf Winnyzja über 20 Menschen umgekommen waren, stellte sie sich am 15. Juli am Moskwa-Ufer mit einem neuen Transparent vor den Kreml, auf dem sie Putin als Mörder und seine Soldaten als Faschisten bezeichnete.
Sie erhielt zwei neue Bußgeldstrafen, dann wurde sie wegen der Aktion am Moskwa-Ufer festgenommen, ihr drohten wegen durch „politischen Hass“motivierten „Fake-News“über die Armee zehn Jahre Gefängnis. Mithilfe von „Reporter ohne Grenzen“flohen sie und ihre Tochter Arischa ins Ausland.
Inzwischen leben sie in Frankreich, Marina Owsjannnikowa ist jetzt häufig Gast in westeuropäischen Talkshows. Und sie hat ein Buch geschrieben: „Zwischen Gut und Böse. Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte.“Sie habe ein enormes Schuldgefühl gegenüber den Ukrainer, seit die Bomben auf sie fielen, schreibt sie darin. „Es war mir unmöglich, in unserer gemütlichen, sicheren Welt ruhig zu sitzen und so zu tun, als sei alles in Ordnung. Es war notwendig, der ganzen Welt laut und unter Lebensgefahr zu sagen: ,Der Kaiser ist nackt!’“
In ihrem Buch schildert die Journalistin auch ihre Flucht über die grüne Grenze, ohne preiszugeben, in welches Land sie entkam. Dass sie sich im Gegensatz zu anderen Russen, die wegen des „Fake News“Paragraphen im Gefängnis landeten, retten konnte, führte zu neuen Spekulationen im Westen: Steckte nicht doch Putins Staatssicherheitsdienst FSB hinter dem Fall Owsjannikowa?
Fast 20.000 Russen festgenommen
Sergej Ainbinder, Chefredakteur von RusNews, einem der letzten unabhängigen Nachrichtenportale in Russland, glaubt nicht, dass Marina Owsjannikowa Kremlagentin ist. Wahrscheinlicher sei, dass die Behörden sie loswerden wollten: „Man wollte einen lauten Prozess gegen sie vermeiden, weil sie lange im System gearbeitet hatte.“Marina Owsjannnikowa habe begriffen, was in der Ukraine geschehe und ihre Weltanschauung verändert. Und sie hatte Glück.
Noch Mitte Februar verurteilte ein Gericht in Barnaul Ainbinders Altai-Korrespondentin Maria Ponomarenko, auch eine zweifache Mutter, zu sechs Jahren Gefängnis, wegen der Verbreitung angeblicher Fakes über die Armee auf ihrem Telegram-Kanal. Laut dem Bürgerrechtsportal OWD-Info wurden seit dem 24. Februar 2022 fast 20.000 Russen wegen pazifistischer Meinungsäußerungen festgenommen, gegen 459 Strafverfahren eröffnet. Ein Großteil davon wegen Mahnwachen oder Online-Blogs, also wegen Einzelaktionen.
„Keiner wollte aus mir ein Opfer machen“, erklärte Marina Owsjannikowa selbst vor kurzem ZDF-Moderator Markus Lanz ihr glimpfliches Davonkommen. „Sie wollten mich einfach als etwas Hausgemachtes, Künstliches darstellen: Vielleicht arbeitet sie für den FSB, vielleicht für das Ausland. Sie wollten alles tun, damit ich vergessen werde.“Maria Owsjannikowas Glück war, dass sie ihre sechs Sekunden einsamer Tapferkeit live im zentralen Kanal des Staatsfernsehens, vor der Weltöffentlichkeit veranstalten konnte.