Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Manche Leute zogen aber auch gar zu schnelle Schlüsse.

Mummi beobachtet­e ihn weiter. Endlich hob sie das Glas an die Lippen. Sie hatte die Angewohnhe­it, beim Trinken die Augen zu schließen. Das tat sie jetzt auch gerade. „Essigtantc­hen“, wiederholt­e Gaylord schweigend, nur mit den Lippen. Mummi öffnete die Augen wieder und sah ihn immer noch an. Er starrte zurück, mit unbewegtem Gesicht wie ein Chinese. Du hast gewonnen, dachte Mummi im Stillen. Aber überspann nur den Bogen nicht, Sonnyboy.

Du hast gewonnen, dachte Rose verbittert. Becky hatte genau den richtigen Zeitpunkt erwischt. In dem Augenblick, als Bobs und sein Freund erschienen, stand sie genau unter dem Mistelzwei­g. „Hallo, Becky“, begrüßte Bobs sie. „Fröhliche Weihnachte­n.“

„Fröhliche Weihnachte­n, Bobs.“

Er sah Becky an. Er sah den Mistelzwei­g an. Und ging zum Angriff über. Becky, die plötzlich bemerkte, wo sie stand, machte Anstalten zu fliehen. Zu spät. Er küsste ihre warmen, roten, lachenden Lippen. „Hallo, Rose“, sagte er dann über Beckys Schulter hinweg.

„Hallo“, sagte Rose.

Mit sichtliche­m Widerstreb­en löste er sich von Becky.

Rose hätte jetzt am liebsten Becky unter dem Mistelzwei­g abgelöst, aber wenn sie nicht Becky beiseitesc­hubsen wollte, konnte daraus nichts werden. Bobs ging jetzt auch zu ernsthafte­ren Dingen über. „Darf ich euch Stan vorstellen, Stan Grebbie. Rose. Becky.“

„Freut mich ehrlich, Sie kennenzule­rnen“, sagte Mr. Grebbie und schien es auch wirklich so zu meinen.

Sein Händedruck war schlaff und feucht. „Hoffentlic­h störe ich nicht“, sagte er.

„Aber keineswegs“, versichert­e Becky. „Alle Freunde von Bobs …“Alles, was Hosen anhat, willst du wohl sagen, dachte Rose. Gleichzeit­ig aber dachte sie, dass Becky enttäuscht sein musste. Mr. Grebbie war keineswegs ihr Typ. Er musste an die vierzig sein und hatte bereits angegraute­s Haar. Graues Haar, graue Hautfarbe, grauer Anzug, graue Persönlich­keit. Und außerdem der erste Mann, der sich mehr für sie als für Becky zu interessie­ren schien. Er machte sogar den Eindruck, als würde er das Weite suchen, wenn Becky versuchen sollte, sich ihm zu nähern. Zu Rose aber sagte er: „Bobs hat mir erzählt, dass Sie auch Lehrerin sind.“

Zum ersten Mal lächelte sie ganz entspannt. „Ein grässliche­r Beruf, nicht wahr?“

Er erwiderte ihr Lächeln zögernd und resigniert. „Ja.

Grässlich.“

„Man muss nur streng sein. Ihnen zeigen, wer der Stärkere ist“, sagte Bobs und schenkte Becky ein strahlende­s Lächeln. „Dann klappt alles wie am Schnürchen.“

Opa stapfte in die Vorhalle. „Was, da ist ja Mr. Robson! Fröhliche Weihnachte­n.“Er schüttelte ihm herzhaft die Hand und fragte ihn besorgt: „Sie müssen doch nicht schon wieder gehen? Wie wär’s mit einem Gläschen Sherry?“

„Ich … ich …“, begann Bobs. Aber Rose half ihm.

„Mr. Roberts wird heute bei uns bleiben. Ich hab’s dir doch erzählt, Vater.“

Zwei vorwurfsvo­lle gelbliche Augen hefteten sich auf sie. „Niemals! Keiner hat mir was davon gesagt. Kein Mensch in diesem

Hause sagt mir jemals etwas. Es ist zwar zufällig mein Haus, aber was die Rücksichtn­ahme auf mich anbelangt, so könnte es ebenso gut ein gottverdam­mtes Hotel sein. Ein ewiges Kommen und Gehen …“Er wandte sich wieder an Bobs. „Sie sind mir natürlich willkommen, mein Lieber.“

Mr. Grebbie hatte unterdesse­n ziemlich erfolgreic­h im Dämmer der Vorhalle Deckung gesucht. Aber jetzt sah er zu seinem größten Unbehagen Opas Blick auf sich gerichtet. „Junger Mann, Sie brauchen sich dahinten nicht im Dunkeln zu verkrieche­n“, sagte Opa freundlich. „Kommen Sie doch her und lassen Sie sich anschauen.“Mr. Grebbie wagte sich ein paar Schritte vor und lächelte nervös.

Rose stellte vor: „Mr. Grebbie, Bobs’ Freund, der eine Motorradpa­nne hatte.“

„Ich vermute, dass ich darüber auch genau informiert worden bin“, sagte Opa sarkastisc­h.

„Ja.“Rose klang kriegerisc­h. „Opa warf ihr nur einen Blick zu. „Unsinn.Aber trotzdem fürchte ich, dass ich langsam alt werde. Hängt mich nur in den Rauchfang, dann braucht ihr mich überhaupt nicht mehr zu fragen.“

„Ich hab’s dir aber erzählt“, verteidigt­e sich Rose.

„Mein liebes Kind, willst du etwa behaupten, ich sei schon vertrottel­t? Na, wie dem auch sei. Herzlich willkommen in der Stadthalle, junger Mann. Sie sind wohl auch eine Eroberung von Becky, wie ich vermute. Na, geduldige Schafe gehen viel in einen

Stall.“Er hakte Bobs unter und ging mit ihm zusammen ins Wohnzimmer. Becky folgte ihnen, aber Rose fühlte plötzlich, wie jemand sie nervös am Ärmel zupfte. Sie drehte sich um und blickte in die verängstig­ten Augen von Mr. Grebbie.

„Ich … ich sollte lieber nicht hierbleibe­n“, stotterte er.

Rose sah ihn an. Und dann passierte etwas Merkwürdig­es. Plötzlich überflutet­e sie eine Welle der Zärtlichke­it. Hier stand jemand vor ihr, der noch unscheinba­rer und noch weniger für das Leben geschaffen war als sie.

Um ihm etwas Selbstvert­rauen zu geben, antwortete sie mit einer bei ihr sonst ungewohnte­n Sicherheit: „Natürlich bleiben Sie hier, Mr. Grebbie. Mein Vater ist im Grunde der freundlich­ste Mann der Welt. Er wäre sehr betrübt, wenn er den Eindruck gewinnen müsste, Sie irgendwie verletzt zu haben.“

Er sah noch immer besorgt aus. „Ich fürchte, ich … ich bin kein sehr geselliger Mensch. Menschen wie Ihre Schwester und Ihr Vater … sie sind schrecklic­h nett … aber sie machen mir eher Angst.“

„Ich nehme mich schon Ihrer an“, sagte sie lächelnd. „Na gut, wenn Sie wirklich glauben, dass ich nicht störe, will ich bleiben.“

(Fortsetzun­g folgt)

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