Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität ausloten
Wer die VR-Brille aufsetzt, taucht ein in eine ganz andere Welt. Bei der 6. Ausgabe des VR-Pavillons werden mutige Virtual-Reality-Filme gezeigt
Es ist eine der vielversprechendsten Technologien der Gegenwart. Weit über die Videospiele hinaus bietet die virtuelle Realität eine Vielzahl von Anwendungen und Möglichkeiten auch im kulturellen Bereich: Museumserlebnisse, Sicherung des Kulturerbes, digitale Kunst, innovative Dokumentarfilme ... Aber sind wir auch bereit für den großen Sprung ins kalte Wasser?
Es geht ruhig zu in Neimënster, wo sich auch dieses Jahr wieder zum Luxembourg City Filmfestival das VR-Pavillon eingerichtet hat. Der Wochentag ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass sich nur wenige die gratis zugänglichen immersiven Filme anschauen und Teil haben an fesselnden Erfahrungen, die konventionelle Filme so nicht ermöglichen. Vielleicht ist ja an den Wochenenden mehr los ... Ein ganzes Wochenende steht ja auch noch bevor. Bis einschließlich Sonntag, dem 19. März, zeigt die 6. Ausgabe des VR-Pavillons mutige Virtual-Reality-Filme aus aller Welt, die menschliche Realitäten dokumentieren und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität ausloten.
Glaube das, was du siehst
Die zwei am vergangenen Samstag von der Jury ausgezeichneten Werke, „All That Remains“und „Container“– das eine aus Taiwan, das andere aus Südafrika – verdeutlichen diese Doppelfunktion der VR-Filme ganz besonders. In der Jury waren diesmal die iranische und franko-kanadische Künstlerin Katayoun Dibamehr, die den Grand Prix der Jury 2020 in Venedig für „The
Das individuelle, aber dafür immersive Eintauchen in eine fiktive Welt kann den Zuschauer mehr berühren als kollektives Kinospektakel.
Hangman at Home“und 2021 für „Playing with Reality“gewonnen hat, die MudamDirektorin Bettina Steinbrügge und der britische Produzent und Kurator für immersive Filmproduktionen Dan Tucker.
Der Hauptpreis ging an „All That Remains“, ein VR-Experiment des Installationskünstlers Craig Quintero, das auch bei den Filmfestspielen von Venedig uraufgeführt wurde. Mit einer der höchsten Bildschirmauflösungen, die derzeit mit VR-Kameras erreichbar ist, wurde diese surreale Performance erstellt. Dadurch steht die Hauptdarstellerin im Film dem Zuschauer „hautnah“gegenüber, schaut ihn eindringlich an und wirkt so real, dass es dem Zuschauer fast schon unheimlich wird. Vor allem dann, wenn von unsichtbarer Hand der Schauspielerin ihr rotes Kleid weggezogen wird und die Frau in Unterwäsche erscheint. Dass dies mit Schamgefühl verbunden sein kann, unterstreicht, wie körperlich und konkret diese VR-Erfahrung wirkt.
Der Zuschauer fühlt sich plötzlich genauso nackt wie die Schauspielerin, und die
Szene nimmt ihn damit aus seiner Komfortzone heraus, was eigentlich ein Widerspruch bedeutet! Die Fiktion, die wie ein Schutzmantel wirken kann, scheint uns am Ende doch lieber zu sein als diese „Beinahe-Realität“, die durchaus als störend empfunden werden kann.
„All That Remains“zeigt, dass das individuelle, aber dafür immersive Eintauchen in eine andere Welt den Zuschauer noch viel mehr berühren kann als das kollektive Kinospektakel auf großer Leinwand. In der virtuellen Welt sieht man ein Abbild der Wirklichkeit, so wie in Platons Höhlengleichnis, man wird aber auch Teil der Fiktion, die sich wiederum auf die Realität bezieht. Nicht von ungefähr hält die Schauspielerin in „All That Remains“– Untertitel: „enter the unknown“– dem Zuschauer hinter der Brille ihre Handfläche entgegen, auf der geschrieben steht, „believe everything you see“.
Sklaven von gestern und heute
Auch die südafrikanische Produktion „Container“von Meghna Singh und Simon Wood, die von der Jury des Festivals lobend hervorgehoben wurde, liegt an der Schnittstelle zwischen virtueller Realität und Installationskunst. Dieser Container nimmt den Betrachter mit auf eine Reise, die an der Clifton Beach in Kapstadt beginnt, wo die Gräber der 221 versklavten Männer und Frauen liegen, die beim Untergang eines Sklavenschiffs im Jahr 1794 in Fesseln ertranken. Die Zuschauer reisen durch den Container, der die globalisierte Welt und damit auch das moderne Sklaventum versinnbildlicht.
„Container“macht die „unsichtbaren“Menschen, insbesondere ihre Muskeln, ihre Körper, ihre Hände, sichtbar, die unsere Konsumgesellschaft überhaupt ermöglichen. Durch die Konfrontation mit der Sklaverei wird die Vergangenheit zur Gegenwart, das Unsichtbare sichtbar. Die Geister der Vergangenheit und die lebenden Gespenster der modernen Welt treffen in diesem Werk aufeinander.
Man denkt dabei auch an Filmregisseur David Lynch, dessen Universum derzeit in der Ausstellung im Ratskeller zu sehen ist. „Container“existiert in einem Grenzbereich zwischen Traum und Realität, erforscht unerbittlich das Unbewusste und erzwingt die Konfrontation mit den Verstorbenen. Zuckerwürfel, die wir in unseren Kaffee geben, haben ihren Ursprung in den Rohrzuckerplantagen in Südamerika und damit bei den Sklaven. Sportkleidung und Fußbälle werden bis heute in Bangladesch von Frauen und Kindern genäht. Es sind moderne Sklaven genauso wie die jungen Mädchen in südostasiatischen Massagesalons.
Dieses VR-Projekt stimmt nachdenklich, und die Art, wie darin die Auswüchse der globalisierten Welt thematisiert werden, ist ganz bestimmt aufwühlender als gewöhnliche Dokumentarfilme zu diesem Thema.
VR-Animationen in Schwarz-Weiß
Neben den beiden von der Jury ausgezeichneten VR-Produktionen hinterlassen auch zwei weitere Filme, bei denen die Zuschauer in virtuelle Welten der Animation eintauchen, einen besonderen Eindruck. „From the Main Square“des brasilianischen Regisseurs Pedro Harres, Jury-Preis 2022 bei den Filmfestspielen in Venedig, ist eine kompakte Illustration der sozialen Zerrüttung. Gezeigt wird in einem schwarzweiß gezeichneten Universum mit nur wenigen Farbtupfern, wie eine Zivilisation aufblüht, dies allerdings mit all ihren Widersprüchen, um dann zur Gefahr für sich selbst zu werden.
Auch in Schwarz-Weiß und ebenfalls animiert ist der immersive Film „Kubo Walks the City“von Hayoun Kwon. Dieses Werk befasst sich auch mit der Entwicklung der Gesellschaft, mit Geschichte und Unterdrückung. Der Zuschauer wird Teil des Films, er muss sich mit der VR-Brille auch physisch in einem Raum bewegen und folgt dabei den Spuren des koreanischen Schriftstellers Kubo, der 1934, als Korea unter japanischer Besatzung stand, in Seoul seine Stadt erkundete. Mit dem Autor entdeckt man die Stadt durch die Karikaturen der Presse, die sich über die Unzulänglichkeiten eines Teils der koreanischen Gesellschaft lustig machen.
Das VR-Pavillon kann noch bis Sonntag, dem 19. März besucht werden, heute Mittwoch von 10 bis 19 Uhr, am Donnerstag und Freitag von 10 bis 20 Uhr, am Samstag von 11 bis 20 Uhr und am Sonntag von 11 bis 19 Uhr. Alle Filme sind gratis.
VR-Filme stimmen besonders nachdenklich, denn sie bringen den Zuschauer sehr nahe an die Erzählung ran.