Bin ich stilsicher oder peinlichgeschmacklos?
Warum die Begegnung mit moderner Kunst so stressig sein kann
Viele Menschen meiden die Begegnung mit moderner oder zeitgenössischer Kunst, weil sie eine Blamage fürchten. Doch Vermeidung hilft nicht weiter. Treten wir die Flucht nach vorn an!
„Ist das Kunst oder Sperrmüll?“, „Bin ich blöd, weil ich mich im Museum langweile?“, „Ich mag lieber Dalí statt dieses abstrakte Zeug“– Gedanken wie diese gehen vielen Menschen durch den Kopf, wenn sie durch Museen, Messen und Biennalen streifen – sie werden sich allerdings hüten, diese Gedanken laut auszusprechen. Bei vielen Zeitgenossen löst moderne und allermodernste Kunst – Gegenwartskunst – diffuses Unbehagen aus. Begegnungen mit Kunst und Künstlern, Gespräche über Kunst empfinden sie als belastend, weil sie eine Blamage fürchten. Es erscheint wie ein Paradox: Während es, im Vergleich zu den vergangenen Jahrhunderten, immer weniger verbindliche Regeln für das Benehmen und Zusammenleben zu geben scheint, während der Einzelne, befreit von Klassen- und Standesgrenzen, eigentlich immer weniger Angst davor haben müsste, gegen Regelwerke, Dresscodes und Sprachformeln zu verstoßen, ist die Angst vor der Peinlichkeit proportional mit der persönlichen Freiheit gewachsen. Gerade im Umgang mit Kunst manifestiert sich eine tiefsitzende Angst, in Gesellschaft bloßgestellt zu werden.
Was passiert eigentlich in einer akut peinlichen Situation, wovor fürchtet man sich konkret? In derartigen Momenten zerreißt das fein gesponnene Netz aus Kommunikationssignalen, Codes und Verhaltensregeln – die sogenannte „zweite Natur“des Menschen, die wir im Laufe unseres Lebens annehmen. Wir fallen dann aus unserer gesellschaftlichen Rolle; unser Selbstbild, und vor allem das Bild, das wir bei anderen erzeugen wollen, droht beschädigt zu werden. Peinliches löst Schamangst aus – eine machtvolle Emotion. Sie ist deshalb so wirkungsvoll, weil sie alle anderen Gefühle in der drohenden oder eingebildeten peinlichen Situation zu überfluten vermag.
Vom Kindesalter an speichern wir Situationen, die unser Peinlichkeitsempfinden prägten, in einem persönlichen „Missgeschickskatalog“. Auch missglückte Begegnungen mit Kunst zählen dazu. Wir fürchten, Bildungslücken zu offenbaren, etwa wenn wir die Namen von Künstlern nicht kennen oder falsch aussprechen, wenn wir nicht in der Lage sind, ein Kunstwerk eindeutig zu identifizieren und es u. U. mit Alltagsgegenständen und Müll verwechseln oder wenn wir kunstgeschichtliche Fachbegriffe vertauschen oder missverstehen („Jugendstil? In meiner Jugend sah das anders aus!“). In derartigen Situationen droht ein Statusverlust. Allein schon die Notwendigkeit, aus Unwissenheit über Kunst Fragen stellen zu müssen, ist vielen Zeitgenossen unangenehm.
„Existenzielle Erregung” beim Sprechen über Kunst
Der deutsche Sprachwissenschaftler Marcus Müller berichtete im Rahmen seiner Forschungen, dass beim Sprechen über Kunst eine „existenzielle Erregung” bei den Beteiligten spürbar werde: „Man ist besonders im Umgang mit moderner und zeitgenössischer Kunst einer ständigen Prüfungssituation sich selbst und anderen gegenüber unterworfen.” Besonders unangenehm ist manchen Menschen, dabei über rein sachliche Wissenslücken hinaus etwas Persönliches preisgeben zu müssen: Vorlieben, Gefühle und kulturelle Prägungen aus Kindheitsund Jugendzeiten.
Das dialogische, partizipative Kunstgespräch, wie es heute in der Kunstvermittlung „en vogue“ist, kann bei Teilnehmern zu Stress führen, weil es mit einem Kontrollverlust einhergeht: Bei einem „tastenden“, assoziativen Sprechen über Kunstwerke soll man spontan sein und spekulieren, soll man auch Fragwürdiges und Falsches sagen dürfen. Dazu ist es nötig, sich die Maske aus Kompetenzgehabe vom Gesicht ziehen, mit der man sich allzuoft in Beruf und Alltag wappnet. Eine widersprüchliche Situation: Denn schließlich ist man heute doch versucht, auch auf dem Gebiet der Kunst eine Kompetenzmaske zu tragen – schließlich dient Kunst gegenwärtig als vortreffliches Medium, um einen sozialen Aufstieg zu demonstrieren.
Mit Hilfe des „richtigen“Kunstgeschmacks können sich kleinbürgerliche Aufsteiger und dubiose Entrepreneure an ihr Wunschmilieu annähern. Zugleich können sich etablierte Kreise und Old-Money-Dynastien mit Hilfe eines bestimmten Kunstgeschmacks von Aufsteigern abgrenzen, Kunst dient ihnen wiederum als Distinktionsinstrument. Angehörige der Unterund Mittelschichten, die Kunstinteresse entwickeln (oder vortäuschen), um sich einer bestimmten Person oder einem Milieu anzunähern – im Übrigen eine Methode des klassischen Hochstaplers, der über den Weg des Kunstgeschmacks und der Bildung seine Zielpersonen zu beeindrucken sucht – müssen stets fürchten, aufzufliegen. Die Angst, die feinen kulturellen Codes doch nicht zu beherrschen, sorgt bei ihnen für Anspannung. Eine „Enttarnung“auf dem Feld der Kunst wäre ein Rückschlag und höchst peinlich („Jeder kann jetzt sehen, dass ich nicht dazugehöre!“)
Verräterischer Kitsch
Besonders gefährlich für die Annäherung an ein kultiviertes Wunschmilieu ist ein sentimentaler, oberflächlicher oder altmodischer Kunstgeschmack. Unter keinen Umständen sollte man in den Verdacht kommen, Kitsch zu mögen – denn jede Art von Kitsch gilt als Todfeind der seriösen Kunst.
Peter Pakesch, heute renommierter österreichischer Kurator, erinnert sich an schmerzvolle Lernprozesse in der Jugend: „Als wir jung waren, sehr jung waren, war für uns die Malerei von Salvador Dalí das höchste. Später lernten wir, dass diese Bilder nicht wirklich zum großen Kanon der Moderne gehörten, dass sie irgendwie Bastarde waren, über die man eher mit vorgehaltener Hand sprach. Sie waren peinlich, vor allem deswegen, weil ihr Autor sich so peinlich aufführte, weil sie ungeheuerlich populär und ihre Trivialität so offensichtlich war.“Kitsch bedient zwar nach wie vor den Geschmack der breiten Masse, und wird auch gelegentlich als ironisch-provokative Geste von Snobs und Dandys geschätzt. Ambitionierte Aufsteiger können sich „Bad Taste“-Allüren allerdings kaum leisten. Zu hoch ist das Risiko, durch einen kitschigen, sentimentalen oder biederen Kunstgeschmack die bildungsferne oder kleinbürgerliche Herkunft zu offenbaren und damit einen Statusverlust zu erleiden.
Blamiert euch!
Wer heute über Kunst urteilt, so der russischdeutsche Kunstkritiker und Philosoph Boris Groys, muss selbst auswählen, er ähnelt darin dem Künstler, der aus dem riesigen Fundus von Alltagsbildern, Alltagsgegenständen und Archivmaterialien schöpft. Wer über Kunst urteilt, wird heute selbst zum Künstler – und kann dabei ebenso scheitern – als ungeschickter Repräsentant eines bestimmten Lebensstils, Geschmacks oder intellektuellen Anspruchs.
Beim Blick auf die Geschichte zeigt sich, dass das Peinlichkeitsempfinden im Grunde ein Mittelschichtsphänomen, eine bürgerliche Errungenschaft ist. Der Adel, die Snobs, aber auch
manche neureichen Tycoons setzten sich zu allen Zeiten kalt lächelnd darüber hinweg. Die bis heute starke Nachfrage nach allen möglichen Verhaltensratgebern, Dresscodes und Knigges ist offenbar Ausdruck einer Verunsicherung der Mittelschichten, ist Merkmal eines speziell bürgerlichen Bildungshungers, der darauf zielt, Peinlichkeiten unter allen Umständen zu vermeiden. All dies scheint wieder eminent wichtig geworden zu sein in unserer Zeit, in der „Impressions-Management-Strategien“und der Erwerb einer „Kompetenzdarstellungskompetenz“für das Fortkommen des Einzelnen unverzichtbar zu sein scheinen. Sich souverän auf dem Feld der Kunst bewegen zu können – das ergänzt ideal die Palette jener „Social Skills“, die zu den Schlüsselqualifikationen der Gegenwart zählen. Doch wer die Selbstkontrolle im Alltag allzu stark perfektioniert, wer allzu beflissen den etablierten Größen und Schulweisheiten des Kunstbetriebs nachläuft, bringt sich um den Nutzen der als peinlich empfundenen Emotionen. Womöglich ist die Blamage in den allermeisten Alltagssituationen auch gar keine Katastrophe, sondern eine Chance.
Allein schon durch das Stellen von scheinbar naiven Fragen kann man viel erleben – erst recht auf dem Gebiet der Kunst. Wer nie etwas falsch macht, hält sich vielleicht für kompetent und erfolgreich, erstarrt aber in Routine und wird geistig immer unbeweglicher. Der peinliche Zwischenfall, das Aus-dem-Takt-Geraten, das Gefühlschaos ist manchmal genau die produktive Irritation, die wir brauchen – eine Gelegenheit, uns eigene Defizite bewusst zu machen und sie zu überwinden. Das Feld der Kunst bietet sich als ideales Trainingsgelände dafür an – und die Blamage im Museum wird zur produktiven Herausforderung.
* Christian Saehrendt, Kunstwissenschaftler und Buchautor. Lebt in Thun (CH). Autor des Buches „Blamage! Geschichte der Peinlichkeit“.