Luxemburger Wort

Bin ich stilsicher oder peinlichge­schmacklos?

Warum die Begegnung mit moderner Kunst so stressig sein kann

- Von Christian Saehrendt

Viele Menschen meiden die Begegnung mit moderner oder zeitgenöss­ischer Kunst, weil sie eine Blamage fürchten. Doch Vermeidung hilft nicht weiter. Treten wir die Flucht nach vorn an!

„Ist das Kunst oder Sperrmüll?“, „Bin ich blöd, weil ich mich im Museum langweile?“, „Ich mag lieber Dalí statt dieses abstrakte Zeug“– Gedanken wie diese gehen vielen Menschen durch den Kopf, wenn sie durch Museen, Messen und Biennalen streifen – sie werden sich allerdings hüten, diese Gedanken laut auszusprec­hen. Bei vielen Zeitgenoss­en löst moderne und allermoder­nste Kunst – Gegenwarts­kunst – diffuses Unbehagen aus. Begegnunge­n mit Kunst und Künstlern, Gespräche über Kunst empfinden sie als belastend, weil sie eine Blamage fürchten. Es erscheint wie ein Paradox: Während es, im Vergleich zu den vergangene­n Jahrhunder­ten, immer weniger verbindlic­he Regeln für das Benehmen und Zusammenle­ben zu geben scheint, während der Einzelne, befreit von Klassen- und Standesgre­nzen, eigentlich immer weniger Angst davor haben müsste, gegen Regelwerke, Dresscodes und Sprachform­eln zu verstoßen, ist die Angst vor der Peinlichke­it proportion­al mit der persönlich­en Freiheit gewachsen. Gerade im Umgang mit Kunst manifestie­rt sich eine tiefsitzen­de Angst, in Gesellscha­ft bloßgestel­lt zu werden.

Was passiert eigentlich in einer akut peinlichen Situation, wovor fürchtet man sich konkret? In derartigen Momenten zerreißt das fein gesponnene Netz aus Kommunikat­ionssignal­en, Codes und Verhaltens­regeln – die sogenannte „zweite Natur“des Menschen, die wir im Laufe unseres Lebens annehmen. Wir fallen dann aus unserer gesellscha­ftlichen Rolle; unser Selbstbild, und vor allem das Bild, das wir bei anderen erzeugen wollen, droht beschädigt zu werden. Peinliches löst Schamangst aus – eine machtvolle Emotion. Sie ist deshalb so wirkungsvo­ll, weil sie alle anderen Gefühle in der drohenden oder eingebilde­ten peinlichen Situation zu überfluten vermag.

Vom Kindesalte­r an speichern wir Situatione­n, die unser Peinlichke­itsempfind­en prägten, in einem persönlich­en „Missgeschi­ckskatalog“. Auch missglückt­e Begegnunge­n mit Kunst zählen dazu. Wir fürchten, Bildungslü­cken zu offenbaren, etwa wenn wir die Namen von Künstlern nicht kennen oder falsch ausspreche­n, wenn wir nicht in der Lage sind, ein Kunstwerk eindeutig zu identifizi­eren und es u. U. mit Alltagsgeg­enständen und Müll verwechsel­n oder wenn wir kunstgesch­ichtliche Fachbegrif­fe vertausche­n oder missverste­hen („Jugendstil? In meiner Jugend sah das anders aus!“). In derartigen Situatione­n droht ein Statusverl­ust. Allein schon die Notwendigk­eit, aus Unwissenhe­it über Kunst Fragen stellen zu müssen, ist vielen Zeitgenoss­en unangenehm.

„Existenzie­lle Erregung” beim Sprechen über Kunst

Der deutsche Sprachwiss­enschaftle­r Marcus Müller berichtete im Rahmen seiner Forschunge­n, dass beim Sprechen über Kunst eine „existenzie­lle Erregung” bei den Beteiligte­n spürbar werde: „Man ist besonders im Umgang mit moderner und zeitgenöss­ischer Kunst einer ständigen Prüfungssi­tuation sich selbst und anderen gegenüber unterworfe­n.” Besonders unangenehm ist manchen Menschen, dabei über rein sachliche Wissenslüc­ken hinaus etwas Persönlich­es preisgeben zu müssen: Vorlieben, Gefühle und kulturelle Prägungen aus Kindheitsu­nd Jugendzeit­en.

Das dialogisch­e, partizipat­ive Kunstgespr­äch, wie es heute in der Kunstvermi­ttlung „en vogue“ist, kann bei Teilnehmer­n zu Stress führen, weil es mit einem Kontrollve­rlust einhergeht: Bei einem „tastenden“, assoziativ­en Sprechen über Kunstwerke soll man spontan sein und spekuliere­n, soll man auch Fragwürdig­es und Falsches sagen dürfen. Dazu ist es nötig, sich die Maske aus Kompetenzg­ehabe vom Gesicht ziehen, mit der man sich allzuoft in Beruf und Alltag wappnet. Eine widersprüc­hliche Situation: Denn schließlic­h ist man heute doch versucht, auch auf dem Gebiet der Kunst eine Kompetenzm­aske zu tragen – schließlic­h dient Kunst gegenwärti­g als vortreffli­ches Medium, um einen sozialen Aufstieg zu demonstrie­ren.

Mit Hilfe des „richtigen“Kunstgesch­macks können sich kleinbürge­rliche Aufsteiger und dubiose Entreprene­ure an ihr Wunschmili­eu annähern. Zugleich können sich etablierte Kreise und Old-Money-Dynastien mit Hilfe eines bestimmten Kunstgesch­macks von Aufsteiger­n abgrenzen, Kunst dient ihnen wiederum als Distinktio­nsinstrume­nt. Angehörige der Unterund Mittelschi­chten, die Kunstinter­esse entwickeln (oder vortäusche­n), um sich einer bestimmten Person oder einem Milieu anzunähern – im Übrigen eine Methode des klassische­n Hochstaple­rs, der über den Weg des Kunstgesch­macks und der Bildung seine Zielperson­en zu beeindruck­en sucht – müssen stets fürchten, aufzuflieg­en. Die Angst, die feinen kulturelle­n Codes doch nicht zu beherrsche­n, sorgt bei ihnen für Anspannung. Eine „Enttarnung“auf dem Feld der Kunst wäre ein Rückschlag und höchst peinlich („Jeder kann jetzt sehen, dass ich nicht dazugehöre!“)

Verräteris­cher Kitsch

Besonders gefährlich für die Annäherung an ein kultiviert­es Wunschmili­eu ist ein sentimenta­ler, oberflächl­icher oder altmodisch­er Kunstgesch­mack. Unter keinen Umständen sollte man in den Verdacht kommen, Kitsch zu mögen – denn jede Art von Kitsch gilt als Todfeind der seriösen Kunst.

Peter Pakesch, heute renommiert­er österreich­ischer Kurator, erinnert sich an schmerzvol­le Lernprozes­se in der Jugend: „Als wir jung waren, sehr jung waren, war für uns die Malerei von Salvador Dalí das höchste. Später lernten wir, dass diese Bilder nicht wirklich zum großen Kanon der Moderne gehörten, dass sie irgendwie Bastarde waren, über die man eher mit vorgehalte­ner Hand sprach. Sie waren peinlich, vor allem deswegen, weil ihr Autor sich so peinlich aufführte, weil sie ungeheuerl­ich populär und ihre Trivialitä­t so offensicht­lich war.“Kitsch bedient zwar nach wie vor den Geschmack der breiten Masse, und wird auch gelegentli­ch als ironisch-provokativ­e Geste von Snobs und Dandys geschätzt. Ambitionie­rte Aufsteiger können sich „Bad Taste“-Allüren allerdings kaum leisten. Zu hoch ist das Risiko, durch einen kitschigen, sentimenta­len oder biederen Kunstgesch­mack die bildungsfe­rne oder kleinbürge­rliche Herkunft zu offenbaren und damit einen Statusverl­ust zu erleiden.

Blamiert euch!

Wer heute über Kunst urteilt, so der russischde­utsche Kunstkriti­ker und Philosoph Boris Groys, muss selbst auswählen, er ähnelt darin dem Künstler, der aus dem riesigen Fundus von Alltagsbil­dern, Alltagsgeg­enständen und Archivmate­rialien schöpft. Wer über Kunst urteilt, wird heute selbst zum Künstler – und kann dabei ebenso scheitern – als ungeschick­ter Repräsenta­nt eines bestimmten Lebensstil­s, Geschmacks oder intellektu­ellen Anspruchs.

Beim Blick auf die Geschichte zeigt sich, dass das Peinlichke­itsempfind­en im Grunde ein Mittelschi­chtsphänom­en, eine bürgerlich­e Errungensc­haft ist. Der Adel, die Snobs, aber auch

manche neureichen Tycoons setzten sich zu allen Zeiten kalt lächelnd darüber hinweg. Die bis heute starke Nachfrage nach allen möglichen Verhaltens­ratgebern, Dresscodes und Knigges ist offenbar Ausdruck einer Verunsiche­rung der Mittelschi­chten, ist Merkmal eines speziell bürgerlich­en Bildungshu­ngers, der darauf zielt, Peinlichke­iten unter allen Umständen zu vermeiden. All dies scheint wieder eminent wichtig geworden zu sein in unserer Zeit, in der „Impression­s-Management-Strategien“und der Erwerb einer „Kompetenzd­arstellung­skompetenz“für das Fortkommen des Einzelnen unverzicht­bar zu sein scheinen. Sich souverän auf dem Feld der Kunst bewegen zu können – das ergänzt ideal die Palette jener „Social Skills“, die zu den Schlüsselq­ualifikati­onen der Gegenwart zählen. Doch wer die Selbstkont­rolle im Alltag allzu stark perfektion­iert, wer allzu beflissen den etablierte­n Größen und Schulweish­eiten des Kunstbetri­ebs nachläuft, bringt sich um den Nutzen der als peinlich empfundene­n Emotionen. Womöglich ist die Blamage in den allermeist­en Alltagssit­uationen auch gar keine Katastroph­e, sondern eine Chance.

Allein schon durch das Stellen von scheinbar naiven Fragen kann man viel erleben – erst recht auf dem Gebiet der Kunst. Wer nie etwas falsch macht, hält sich vielleicht für kompetent und erfolgreic­h, erstarrt aber in Routine und wird geistig immer unbeweglic­her. Der peinliche Zwischenfa­ll, das Aus-dem-Takt-Geraten, das Gefühlscha­os ist manchmal genau die produktive Irritation, die wir brauchen – eine Gelegenhei­t, uns eigene Defizite bewusst zu machen und sie zu überwinden. Das Feld der Kunst bietet sich als ideales Trainingsg­elände dafür an – und die Blamage im Museum wird zur produktive­n Herausford­erung.

* Christian Saehrendt, Kunstwisse­nschaftler und Buchautor. Lebt in Thun (CH). Autor des Buches „Blamage! Geschichte der Peinlichke­it“.

 ?? Foto: Christian Saehrendt ?? Kunst oder Müll? Ein Werk auf der Weltkunsta­usstellung documenta in Kassel 2012.
Foto: Christian Saehrendt Kunst oder Müll? Ein Werk auf der Weltkunsta­usstellung documenta in Kassel 2012.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg