Am Grab des Genossen
Vor 140 Jahren starb Karl Marx
Vier Britische Pfund kostete der Eintritt in den „Highgate Cemetery“in London vor fünf Jahren. Das war vor dem Brexit. Im 140. Todesjahr des Genossen, sind es vermutlich mehr. Vier oder auch fünf Pfund vielleicht, um an das Grab von Karl Marx zu gelangen. Der Vordenker des Sozialismus, der 1883 im Londoner „Highgate Cimetery“beerdigt wurde, konnte zu Lebzeiten zwar nie mit Geld umgehen, schafft es aber, sogar im Tod nochmals die Kasse klingeln zu lassen. Es muss ihn ganz bestimmt wurmen, dass die Kapitalwirtschaft sogar an seiner letzten Ruhestätte blüht. Karl Marx wollte deren Ketten sprengen und meinte, das Geld sei das allgemeine, für sich selbst konstruierte Ding aller Welt und habe die Menschheit wie die Natur ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Mit dieser Behauptung lag er richtig – Geld regiert die Welt: Wer an das Grab des Kapitalismuskritikers im Londoner Stadtbezirk Camden will, muss in die Tasche greifen.
Vier Pfund, das ist der Preis, der zu entrichten ist, um sich Karl Marx’ sterblichen Überresten zu nähern. Vier Geldstücke, um einen Marmorstein zu betrachten. Vier Münzen, um das Handy zu zücken und eine letzte Ruhestätte zu fotografieren. Ein Bild. Ein Selfie. Ein Post. Instagram und Facebook freuen sich. Die neuen Trittbrettfahrer des Kapitalismus verdienen mit. Karl Marx, Philosoph und Politökonom, Journalist und Soziologe, Aktivist und Kapitalismuskritiker, seit Langem eine Ikone, längst bevor die Bilderflut über die sozialen Netzwerke schwappte – ein Mann mit Rauschebart und mürrischem Blick.
Unruhe am Ort der letzten Ruhe
Vier Pfund. Man fragt sich, wer diesen Preis festgelegt hat? Wie lässt sich überhaupt der Wert eines Grabbesuches berechnen? Auf dem Friedhof in London schaut der „Vater des Kapitals“mürrisch drein, so als störe ihn die Unruhe an seinem Ort der letzten Ruhe. Grabhügel, Grabsteine und Grabplatten. Grüfte, Mausoleen und Kapellen. Verstorbene und ihre Nachkommen wollen andere Tote übertrumpfen. Es ist ein Wettrüsten auf dem Todesacker: Skulpturen, Putten und Kreuze, weinende Engel, weinende Mütter, weinende Wolken – der graue Himmel über der Stadt tut seine Schuldigkeit. Es regnet. Und es regnet manchmal auch sehr heftig. Ungemütlich wird es dann auf dem Londoner Hügel. Dafür grünt es auch. Das Efeu kriecht und wuchert auf dem Friedhof, Pflanzen bäumen sich auf, so als müssten sie in diesem Labyrinth des Todes ihre Lebendigkeit unter Beweis stellen: Granitsteine als Ausdruck der Ewigkeit, an die sich Moose und Flechten festkrallen – so wie der Mensch sich hoffnungsvoll an ein Leben nach dem Tod festklammert.
Auf Marx’ Grabstein steht der Aufruf aus dem kommunistischen Manifest „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch“. Und auch die elfte These über Feuerbach ist in Stein gemeißelt: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“Marx selbst war kein Proletarier, seine Frau Jenny von Westphalen sogar eine echte Adelige. Am Tag seiner Beerdigung war kein Aufmarsch der Proletarier. Es ging still zu – ein Dutzend Trauergäste waren gekommen. Friedrich Engels hielt die Trauerrede. Das war aber an einer anderen Stelle auf dem Highgate-Friedhof. Denn Marx lag zunächst in einem bescheidenen Grab an der Seite seiner Frau Jenny und seiner Tochter Jenny Caroline. Das heutige Denkmal entstand erst 1955 auf Wunsch der kommunistischen Partei Großbritanniens. Die sterblichen Überreste der Familienmitglieder wurden überführt. Sowohl auf dem ursprünglichen Grab als auch vor der monumentalen Büste werden bis heute immer wieder Blumen niedergelegt. Kleine Kieselsteine liegen als Erinnerung auf der Marmorplatte. Vor Covid kamen viele Chinesen und huldigten dem Genossen Karl.
Am Fuße des wuchtigen Denkmals und im Schatten der Bronzebüste befinden, sich noch zwei weitere Gräber, die man leicht übersieht. Ein gewisser Chris Harman ist dort beerdigt, geboren 1942 und gestorben 2009. Ein Revolutionär, Denker und Aktivist. Er war ein Experte des Rüstungs- und Staatskapitalismus. Den Friedhofsbesucher beschenkt er mit Versen von Bertolt Brecht, die in seinem Grabstein eingraviert sind: „Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte müssen genügen. Wenn ich sage, was ist, muss jedem das Herz zerfleischt sein. Dass du untergehst, wenn du dich nicht wehrst, das wirst du doch einsehen.“
„Ye are many – they are few“
Gleich neben Harman liegt Paul Foot, geboren 1937, gestorben 2004. Er war Schriftsteller, Revoluzzer und Mitglied der sozialistischen Arbeiterpartei in Großbritannien. Auf seiner Grabplatte kann man das Gedicht „Mask of Anarchy“des britischen Dichters Percy Bysshe Shelley lesen, das dieser Romantiker im Gedenken an die Niederschlagung eines Aufstands in Manchester im August 1819 geschrieben hat. Damals war die britische Kavallerie mit gezogenen Säbeln in eine Demonstration geritten und hatte fünfzehn Menschen getötet:
Rise, like lions after slumber In unvanquishable number!
Shake your chains to earth like dew Which in sleep had fallen on you: Ye are many – they are few!
Jeremy Corbyn, Labour-Kandidat bei britischen Parlamentswahlen, hatte 2017 eine seiner Wahlreden mit diesen Versen beendet.