Wie Künstliche Intelligenz Anwälten die Arbeit erleichtert
Von der Durchsetzung von Fluggastrechten bis hin zur Rechtsberatung in internationalen Firmen – intelligente Systeme erobern die Kanzleien
Während Manager in vielen Branchen noch grübeln, wie sie die letzten Durchbrüche bei der Künstlichen Intelligenz (KI) nutzen können, um ihr Geschäft effizienter und günstiger betreiben zu können, ist die Technologie bei vielen Anwaltskanzleien bereits angekommen.
Als eine der ersten großen Firmen in Luxemburg setzt Allen & Overy auf Harvey, eine Spezialsoftware für den Rechtsbereich, die auf dem KI-Sprachmodell von Open AI beruht, das auch ChatGTP zugrunde liegt. Auch Harvey kann man Fragen stellen, und er generiert augenblicklich automatisiert Antworten, nur dass die Software eben speziell für Anwendungen in der Rechtsbranche programmiert wurde.
Die Firma testet das Programm bereits seit November, sagt Baptiste Aubry, der bei der Luxemburger Niederlassung des Unternehmens für den Bereich Finanzmarktregulierung verantwortlich ist. In der Testphase habe man das System über 40.000 Anfragen bearbeiten lassen, erklärt der Jurist. Mit der Qualität sei man so zufrieden gewesen, dass Harvey jetzt in allen 43 Büros zum Einsatz komme, die die Kanzlei weltweit habe.
Exponentielles Wachstum an Daten
Dabei soll Harvey zunächst ausschließlich als internes Instrument eingesetzt werden, um den Anwälten das Leben zu erleichtern. „In unserer Branche ist die Menge an Daten, mit der wir umgehen müssen, in den letzten Jahren exponentiell gewachsen“, sagt Aubry. Beispielsweise im Bereich der Finanzmarktregulierung sei seit der Finanzkrise 2008 die Anzahl an neuen europäischen und nationalen Richtlinien, Gesetzestexten und Vorgaben so stark gestiegen, dass es mitunter schwierig sei, den Überblick zu behalten. „Das türmt sich auf bis zu einem Punkt, dass man als Rechtspraktiker riskiert, dem Kunden nicht immer exakt die Informationen und die Beratung bieten zu können, die er benötigt“, sagt er. „Künstliche Intelligenz kann dabei helfen, dieses Problem zu adressieren.“
Dabei betont er, dass Harvey aktuell kein Werkzeug sei, um die Rechtsberatung zu automatisieren. Vielmehr soll die KI helfen, bei der Lösung von Rechtsproblemen schneller zu Ergebnissen zu kommen, indem sie einschlägige Gesetzesquellen recherchiert, mögliche Antworten vorstrukturiert und Präsentationen vorbereitet. „Wenn ich zum Beispiel einen deutschen Kunden habe, der eine Bank oder einen Crypto Service Provider in Luxemburg ansiedeln will, kann ich das Programm anweisen, eine zehnseitige Präsentation über die rechtlichen Bedingungen zu erstellen“, erklärt Aubry.
Ohne menschlichen Anwalt geht es nicht
Allerdings produziert die Software keine Ergebnisse, die sofort verwendet werden können. Ähnlich wie sein Cousin ChatGPT gibt Harvey mitunter Antworten, die für Laien nachvollziehbar klingen, aber faktisch inkorrekt sind. „Es hat sich gezeigt, dass die Maschine Limitierungen hat. Einige der Schlussfolgerungen erschienen logisch konsistent, aber für jeden, der den Hintergrund von gerichtlichen oder regulatorischen Entscheidungen kennt, war klar, dass die Antwort nicht vollständig war“, sagt Aubry. Harvey bleibt also bis auf Weiteres bei der Kanzlei ein Zuarbeiter für seine menschlichen Kollegen. Die Dokumente, die er liefert, dienen als eine Art Grundgerüst, das die Anwälte überprüfen und bearbeiten müssen, bevor das Material vor Gericht oder im Umgang mit Kunden verwendet werden kann. „Klar ist, dass die Software nicht die Anwälte ersetzen kann“, sagt er.
Auch PwC nutzt die Lösung
Allen & Overy habe zu den Vorreitern auf diesem Gebiet gehören wollen, so Aubry. Er sei sich aber dennoch sicher, dass es eine Frage der Zeit sei, bis die Wettbewerber ähnliche Systeme bei sich einführten. So zählt Robin AI, ein Konkurrenzprodukt von Harvey, unter anderem die Großkanzlei Clifford Chance zu seinen Kunden. Am Mittwoch verkündete auch die Unternehmensberatung PwC, dass man Harvey nutzen werde, um seinen 4.000 Anwälten die Arbeit zu erleichtern. Ebenso soll die Software im Bereich der Steuerdienstleistungen angeboten werden.
Einen etwas anderen Ansatz verfolgt das Unternehmen Jupus, das im vergangenen Jahr in Trier gegründet wurde. Das Start-up setzt auch auf KI, um die Abläufe in Kanzleien zu optimieren, konzentriert sich aber auf die administrativen Vorgänge bei der Aufnahme neuer Kunden.
„Die Anwaltsbranche gehört nicht unbedingt zu den fortschrittlichsten Sektoren, was die Digitalisierung angeht“, sagt René Fergen, der Gründer des Unternehmens. „Online-Banking kann ich über eine App erledigen, Arzttermine digital buchen, sogar meine Steuererklärung kann ich über den Rechner abgeben, aber bei den Anwälten hat sich wenig getan. Da muss ich in aller Regel noch For
René Fergen, Gründer von Jupus
mulare ausdrucken, ausfüllen, einscannen und wieder wegschicken.“
Fachkräftenotstand
Gerade kleinere Kanzleien riskierten so, Mandanten zu verlieren, weil sie nicht hinreichend digital seien. „Der zweite Punkt ist ein extremer Fachkräftemangel. Den haben wir überall, aber bei Kanzleien kann man von Fachkräftenotstand sprechen“, sagt Fergen. Derzeit würde ein Großteil der Aufgaben beim ‚Onboarding‘ von Mandanten – vom allerersten Kontakt über Terminvereinbarung, bis hin zu Vollmachten oder Anlegen von Akten – manuell von den Mitarbeitern erledigt.
Aus diesem Grund hat das Start-up den nach Unternehmensangaben ersten Chatbot im deutschsprachigen Raum entwickelt, der selbstständig Rechtsthematiken erkennt. Der ist Teil der Website des Anwalts und fragt die Besucher, bei welchen Problemen die Kanzlei weiterhelfen kann.
„Dann geben Sie ein ‚Mein Chef hat mich gefeuert.‘, oder ‚Meine Nebenkostenabrechnung ist zu hoch.‘ Die Software erkennt durch ‚Natural Language Processing‘, sofort, um welche Thematik es geht, und fragt im nächsten Schritt all die Informationen ab, die der Anwalt braucht, um direkt einschätzen zu können, ist das hier ein lukrativer Fall und kann ich überhaupt weiterhelfen“, erklärt Fergen. „Hier können sofort Fristen berechnet und auch Dokumente hochgeladen werden. Eine ganze Anfrage kann so vollständig mit allen juristisch relevanten Informationen innerhalb von drei bis vier Minuten abgeschickt werden.“
Den Chatbot habe das Unternehmen über einen längeren Zeitraum mithilfe von anonymisierten Daten trainiert. Zuletzt konnte das Start-up etwa eine halbe Million Euro an Investorengeldern einwerben, um das weitere Wachstum zu finanzieren, sagt der Gründer. Man richte sich mit der Lösung in erster Linie an kleine und mittelständische Kanzleien, die etwa 85 bis 90 Prozent des ganzen Marktes ausmachten. „Die haben in der Regel weder die Zeit noch die Mittel oder das Knowhow, um eine solche Lösung selbst aufzubauen“, sagt Fergen.
Sechsstellige Zahl von Kunden im Jahr
Wie das automatisierte Abarbeiten juristischer Fragen im großen Maßstab funktioniert, zeigt das Unternehmen Flightright, das sich darauf spezialisiert hat, Entschädigungen von Flugpassagieren bei Verspätungen zu erstreiten. Das geht vor allem über Masse. Allein im Jahr 2022 habe eine mittlere sechsstellige Anzahl an Kunden die Dienste des Unternehmens in Anspruch genommen beauftragt, sagt Jan-Frederik Arnold, der Geschäftsführer von Flightright.
Nach Unternehmensangaben sind so über 430 Millionen Euro an Entschädigungszahlungen durchgesetzt worden. „In unserer Datenbank bringen wir über 80 Millionen, täglich aktualisierte Datensätze zu Wetterdaten, Rechtsprechungen, Streiks und Flugdaten aus ganz Europa zusammen“, erklärt Arnold. „Darüber hinaus enthält unsere Datenbank die Ergebnisse von mehreren hunderttausend Fällen, die wir bereits vor Gericht gebracht haben. Diese Daten enthalten unter anderem Informationen zu Gericht, Richter, Airline und gegnerischem Anwalt.“
Durch die Anwendung eines Machine Learning Modells auf Basis dieser Daten würde bei einem großen Teil unserer Fälle entschieden, ob und in welcher Höhe ein Passagier einen Anspruch auf Entschädigung hat und wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, vor Gericht zu gewinnen. „Der Kunde bekommt von diesem Prozess nichts mit und sieht nur die Eingabemaske des Entschädigungsrechners. Mit dieser Art der Automatisierung schaffen wir es, mit einem relativ überschaubaren Team, hunderttausende Kunden jährlich zu ihrem Recht zu verhelfen“, sagt der Geschäftsführer.