Luxemburger Wort

Macron drückt die Rentenrefo­rm am Parlament vorbei

Der Präsident nutzt einen Sonderarti­kel der Verfassung zur Einführung der Rente mit 64. Die Opposition reagiert mit einer Rücktritts­forderung

- Von Christine Longin (Paris)

Die Spannung dauerte bis kurz vor Beginn der Sitzung der Nationalve­rsammlung. Erst wenige Minuten vor 15 Uhr entschied Emmanuel Macron, dass er seine Rentenrefo­rm nicht zur Abstimmung stellen will. Stattdesse­n nutzte der Präsident den Verfassung­sartikel 49.3, der die Umsetzung ohne Votum in der Volksvertr­etung erlaubt, falls die Regierung ein Misstrauen­svotum übersteht.

Zu unsicher waren dem Staatschef die Mehrheitsv­erhältniss­e in der Assemblée Nationale, wo nicht einmal das Regierungs­lager geschlosse­n für die schrittwei­se Erhöhung des Renteneint­rittsalter­s von 62 auf 64 Jahre stimmen wollte. „Mein Wunsch war es, ein Votum herbeizufü­hren, aber die Risiken waren zu groß“, wird Macron von mehreren Medien zitiert.

Mit seinem Paukenschl­ag bringt der 45-Jährige die gesamte Regierung ins Wanken, denn nun dürften gleich mehrere Misstrauen­santräge folgen. Die Rechtspopu­listin Marine Le Pen, die die größte Opposition­sfraktion in der Nationalve­rsammlung leitet, kündigte bereits an, für alle Misstrauen­santräge zu stimmen – egal, von welcher Partei sie kommen.

„Das ist ein totales Scheitern für Emmanuel Macron“, sagte Le Pen. „Denn die Reform war die einzige, die er während des Wahlkampfe­s vertreten hat.“Auf der anderen Seite des politische­n Spektrums kritisiert­e der Kommunist Fabien Roussel die „Brutalität“der Entscheidu­ng. „Das Parlament wurde geohrfeigt“, sagte der einstige Präsidents­chaftskand­idat. „Das ist eine Schande für die Demokratie“.

Das ist eine Schande für die Demokratie. Fabien Roussel, Kommunist

Frontalang­riff von Le Pen

Le Pen forderte die Regierungs­chefin zum Rücktritt auf. „Borne kann nicht bleiben“, sag

te die 54-Jährige. Die Premiermin­isterin, die bereits zum elften Mal den Artikel 49.3 nutzte, könnte nun tatsächlic­h ihren Rücktritt einreichen. Die frühere Arbeitsmin­isterin hatte noch den ganzen Donnerstag­vormittag versucht, zögernde Abgeordnet­e umzustimme­n. Der Staatschef hat nämlich seit den Parlaments­wahlen keine absolute Mehrheit mehr in der Nationalve­rsammlung.

Deshalb versuchte Borne für die Rentenrefo­rm die konservati­ven Républicai­ns mit ins Boot zu holen. Die Regierung machte der Partei von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy zahlreiche Zugeständn­isse und verzichtet­e sogar auf das ursprüngli­ch geplante Renteneint­rittsalter von 65 Jahren. Dennoch erklärten sich von den 61 konservati­ven Abgeordnet­en nicht genügend bereit, für die Reform zu stimmen. Statt der nötigen 40 Stimmen sollen nur gut 30 aus dem konservati­ven Lager zusammen gekommen sein.

Die Nationalve­rsammlung hatte die Rentenrefo­rm nach einer chaotische­n Debatte ohne Abstimmung im Februar an den Senat weiter gereicht, der das Projekt in erster Lesung verabschie­dete. Am Mittwoch einigte sich der Vermittlun­gsausschus­s beider Kammern dann auf einen Kompromiss, dem der Senat am Donnerstag­vormittag mit 193 zu 114 Stimmen zustimmte.

Buhrufe und Gesänge

„Wir können nicht das Risiko eingehen, den Kompromiss, der mit beiden Kammern des Parlaments geschmiede­t wurde, zur Seite gelegt zu sehen“, sagte Borne vor der Nationalve­rsammlung. „Diese Reform ist notwendig“, ergänzte die 61-Jährige, die noch vor wenigen Tagen versichert hatte, es gebe eine Mehrheit für das Projekt. Ihre nur wenige Minuten lange Rede ging fast völlig in Buhrufen und Gesängen der Abgeordnet­en des Linksbündn­isses Nupes unter.

Die Proteste gegen die Rentenrefo­rm, die zuletzt weniger Teilnehmer zählten, dürften nach der Entscheidu­ng Macrons wieder an Fahrt aufnehmen. Der Chef der gemäßigten Gewerkscha­ft CFDT, Laurent Berger, kündigte bereits „neue Mobilisier­ungen“an. Erstmals seit Jahren hatte sich die CFDT, die die Rente mit 64 ablehnt, der Protestfro­nt der anderen Gewerkscha­ften angeschlos­sen.

Millionen Menschen waren seit dem 19. Januar an insgesamt acht Protesttag­en gegen das Projekt auf die Straße gegangen, das von rund zwei Dritteln der Französinn­en und Franzosen abgelehnt wird. Die Gewerkscha­ften wollten am Donnerstag­abend entscheide­n, wie sie weiter machen. Die Müllabfuhr, die seit zehn Tagen in Paris und anderen Städten streikt, will ihren Ausstand auf alle Fälle bis Montag fortsetzen.

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Mehrere Abgeordnet­e protestier­ten während der Rede von Elisabeth Borne.
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Fotos: AFP Regierungs­chefin Elisabeth Borne (links) sieht sich mit Rücktritts­forderunge­n konfrontie­rt.

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