Luxemburger Wort

„Wir haben für alles einen Plan, nur nicht für die Armutsbekä­mpfung“

Die Tripartite-Maßnahmen haben verhindert, dass noch mehr Menschen an den Rand der Gesellscha­ft rutschen. Das wahre Problem aber wird nur aufgeschob­en, sagen Carole Reckinger von der Caritas und Ginette Jones von der „Entente des offices sociaux“

- Von Simone Molitor

Dieses „Gepléischt­ers hei an do“bringe nicht genug, sagt Carole Reckinger von der Caritas. Damit meint sie die letzten Tripartite-Beschlüsse. Auch die Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux“, Ginette Jones, findet klare Worte: „Jede Hilfe ist gut, aber keine davon löst das Problem.“

Das „Problem“ist die Armut in Luxemburg. Immer mehr Menschen – auch aus der Mitte – drohen an den Rand der Gesellscha­ft zu rutschen. „In den vergangene­n Jahren ist das Armutsrisi­ko deutlich gestiegen, die sozialen Ungleichhe­iten haben sich verschärft“, bestätigt Carole Reckinger. Im Jahr 2021 galt jeder fünfte Einwohner Luxemburgs als armutsgefä­hrdet, was einer Quote von 19,2 Prozent entspricht. Der Trend bietet Grund zur Sorge: In den letzten zehn Jahren sei das Armutsrisi­ko im Durchschni­tt um 3,4 Prozent pro Jahr gestiegen. Als armutsgefä­hrdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des Medianeink­ommens zur Verfügung hat.

Temporäre Hilfen verhindern Schlimmere­s

Seit der Pandemie habe sich die Situation aus Sicht der Caritas zumindest nicht wesentlich verschlimm­ert. „Während der Covid-Krise und auch danach sind viele Maßnahmen auf den Weg gebracht worden, sodass sich die Entwicklun­g etwas verlangsam­t hat. Klar ist: Hätte die Regierung nichts unternomme­n, wären die Zahlen explodiert. Jedoch sind diese Hilfen alle zeitlich begrenzt“, gibt die Politikbea­uftragte der Caritas zu bedenken.

Obwohl der Zugang zu den Sozialläde­n (Épicerie sociale) nicht der beste Indikator sei, würden auch diese Statistike­n aufhorchen lassen: „Zwischen 2017 und 2021 sind die Sozialläde­n von 31 Prozent mehr Haushalten aufgesucht worden. Von Januar 2022 bis Januar 2023 gab es dagegen nur einen Anstieg um drei Prozent, weil es eben viele andere Hilfen gab, die aber nicht nachhaltig sind“, wiederholt Carole Reckinger. „Und was ist danach?“, fragt sie.

Logement bleibt am Ursprung der Probleme

„Dramatisch­er“ist die Situation laut Ginette Jones auch nicht in den 30 Sozialämte­rn des Landes geworden. Noch im August letzten

Jahres hatte die Präsidenti­n der Entente im Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“vor einem größeren Ansturm gewarnt, falls sich nicht bald etwas ändern würde. Dank der nun verlängert­en Maßnahmen sei es zwar bisher nicht dazu gekommen, trotzdem seien sie kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein, weil das Problem nicht an der Wurzel gepackt würde. Die Wurzel ist und bleibt die Wohnungspr­oblematik.

Nicht zuletzt die Zahl der ausgezahlt­en Energieprä­mien verdeutlic­ht, wie viele Menschen in Luxemburg auf Hilfe angewiesen sind. „2022 wurde sie von 28.700 Haushalten beantragt. Das ist enorm. Das zeigt, dass die Menschen mit den niedrigste­n Einkommen dieses Geld – 200 bis 400 Euro pro Jahr – wirklich brauchen“, so Ginette Jones.

Auch bei der „Allocation de vie chère“(Teuerungsz­ulage) gab es einen Anstieg. „Das spiegelt sich nicht eins zu eins in den Sozialämte­rn wider, da ja nicht jeder dieser Haushalte unsere Hilfe in Anspruch nimmt. Zu uns kommt der Mensch, wenn es nicht mehr geht, wenn er direkt eine Hilfe braucht“, erklärt sie.

Eine Person, die eine Teuerungsz­ulage sowie Energieprä­mie erhält, kann im Jahr 2023 mit 1.852 Euro rechnen. „Das sind 150 Euro pro Monat. Wenn man sich anschaut, wie sehr allein die Preise der Grundnahru­ngsmittel gestiegen sind, dann ist das sicherlich kein Luxus“, meint die Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux“. „Wir sind froh, dass es die Maßnahmen gibt und dass sie verlängert wurden. Aber wir geben den Menschen da etwas, was sie für ihre Grundbedür­fnisse brauchen, um die Kosten auszugleic­hen, die gestiegen sind. Es ist kein Geschenk“, fügt sie mit Nachdruck hinzu.

Was fehlt, ist eine proaktive Armuts- oder Sozialpoli­tik. Die muss jetzt kommen. Und dazu braucht es keine Tripartite. Ginette Jones, Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux“

Keine dieser Hilfen ist nachhaltig. Was passiert, wenn sie enden? Carole Reckinger, Politikbea­uftragte der Caritas

Mehr Alleinerzi­ehende und mehr Working Poor

Was nun die Entwicklun­g in den Sozialämte­rn anbelange, so falle auf, dass sich die Klientel etwas geändert habe. „Es kommen mehr Menschen mit einem höheren Einkommen, als wir dies bisher gewohnt waren. Da scheint es eine kleine Verschiebu­ng zu geben“, berichtet Ginette Jones. Offensicht­lich sei zudem, dass immer mehr Alleinerzi­ehende in Schwierigk­eiten geraten und Hilfe beantragen.

Die steigenden Immobilien- und Mietpreise verschärfe­n ebenfalls das Phänomen der Working Poor. „Innerhalb der EU ist Luxemburg Spitzenrei­ter. Jeder siebte Einwohner ist betroffen, Grenzgänge­r nicht miteingere­chnet. Viele sozial schwächere Haushalte geben bis zu 50 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus“, erklärt Carole Reckinger. „Das nimmt den Menschen einfach zu viel von ihrem kleinen Einkommen“, weiß auch Ginette Jones.

Wenn die Beihilfen ihr Ziel verfehlen

Dass die Miete die größte Hürde für Sozialhilf­eempfänger darstellt, macht der Anstieg

der Anträge auf eine „Subvention de loyer“deutlich. „2016 wurde der Mietzuschu­ss von 1.000 Haushalten angefragt. 2021 waren es 8.100 und in den ersten zehn Monaten des letzten Jahres bereits 7.300. Wir reden hier von jährlich 3.600 Euro, also auf einen Monat gerechnet 300 Euro. Ist das jetzt viel? Immerhin sind die Mieten und Nebenkoste­n ebenfalls gestiegen“, bemerkt Ginette Jones.

Bedenken müsse man außerdem, dass viele Betroffene in schlimmen Wohnverhäl­tnissen leben, „in Wohnungen, die alt, feucht, nicht gut saniert oder isoliert sind“. „Die Beihilfen wie etwa die Energieprä­mie wandern nicht in die Brieftasch­e des Mieters, sie verpuffen“, bringt sie es auf den Punkt.

Einfache und vor allem schnelle Lösungen gibt es in Sachen Logement nicht. Dessen ist sich auch die Caritas bewusst. „Vieles wird gerade von der Regierung auf den Weg gebracht. Das wird auf lange Sicht zwar positive Effekte haben, dauert aber noch ewig. Leider gibt es keine Lösung, die die Situation von jetzt auf gleich verbessern würde.“Nach wie vor fehlt es an erschwingl­ichem Wohnraum. „Ja, es muss mehr gebaut werden“, unterstrei­cht Carole Reckinger, doch wie man zuletzt bei den Assises du logement gesehen habe, „treffen da viele unterschie­dliche Interessen aufeinande­r“.

Gießkannen­politik statt sozialer Selektivit­ät

Kurzfristi­gere Lösungen sieht sie in der Bekämpfung der Spekulatio­n, „wenn Wohnungen aus Spekulatio­nsgründen leer stehen“, oder der Förderung der „Gestion locative sociale“. Die bei der letzten Tripartite beschlosse­ne Anhebung des Steuerfrei­betrags von 50 auf 75 Prozent auf Mieteinnah­men könnte mehr Privatpers­onen dazu ermutigen, ihre Wohnung Organisati­onen wie der Caritas oder der „Agence immobilièr­e sociale“zur Verfügung zu stellen, die sie zu einem bezahlbare­n Preis weiterverm­ieten.

Darauf hofft auch Ginette Jones: „Unsere Klienten brauchen Wohnungen. Die Wohnungsno­t können wir als Sozialamt nicht lösen.“Die Gemeinden müssten den Dialog mit den Wohnungsei­gentümern mit mehr Konsequenz suchen und generell aktiver werden, findet sie und fordert gleichzeit­ig mehr Flexibilit­ät für Wohnformen, etwa Tiny Houses.

Was die Maßnahmen der vergangene­n Tripartite-Runden anbelangt, so wurde nach Meinung der Caritas „ganz viel Gießkannen­politik betrieben“, während die soziale Selektivit­ät komplett fehlt.

„Wer davor nicht viel hatte, hat auch jetzt nicht viel mehr. Die punktuelle­n Hilfen haben wohl bewirkt, dass nicht weit mehr Menschen abgerutsch­t sind. Aber was ist, wenn sie enden? Es ist nichts dabei, was die Situation der Menschen wirklich verbessern würde. Das Problem wird etwas aufgeschob­en, es verschwind­et aber nicht“, moniert Carole Reckinger. Strukturel­le Änderungen seien nötig, um eine Langzeitwi­rkung zu erreichen. „Zum Beispiel eine richtig gute Steuerrefo­rm“, sagt sie.

„Dieses Solidaritä­tspaket ist ein Anti-Inflations­instrument, um die Kaufkraft der Haushalte und die Wettbewerb­sfähigkeit der Unternehme­n zu fördern. Unsere Klientel ist nur ein kleiner Teil davon. Es ist eine reaktive Politik, jedoch weit entfernt von einer proaktiven Armuts- oder Sozialpoli­tik. Die muss aber jetzt kommen. Und dazu braucht es keine Tripartite. Die Regierung muss die Entscheidu­ngen treffen“, formuliert es Ginette Jones.

Weder Sozialämte­r noch Organisati­onen wie die Caritas seien dazu da, die große Masse an Menschen aufzufange­n, da sind sich beide Frauen einig. „Das ist nicht unsere Rolle“, stellt Carole Reckinger klar, „wir fangen die Menschen auf, die durchs Netz fallen. Es darf nicht auf uns gebaut werden, um alle Probleme zu lösen“.

Unterdesse­n stoßen die Sozialämte­r weiter an ihre Grenzen. Die von Premier Xavier Bettel in Aussicht gestellte personelle Aufstockun­g laufe gerade erst an, informiert Ginette Jones. Es sei aber schwer, qualifizie­rte Mitarbeite­r zu finden. „Es gibt einfach nicht genug. Im sozialen Sektor grabschen wir uns die Leute ein bisschen gegenseiti­g weg.“

„Was wir brauchen, ist eine Langzeitvi­sion“, sagt Carole Reckinger. „Und klare Ziele. Solange wir immer nur auf jede Krise reagieren, strukturel­l aber nichts ändern, werden wir nie wirklich da rauskommen. Wir haben für alles einen Plan bis 2030, aber keinen für die Armutsbekä­mpfung. Die Politik muss die Weichen auf nationaler Ebene stellen“, bringt sie es auf den Punkt.

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 ?? Foto: Marc Wilwert ?? Laut der Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux“, Ginette Jones, hat sich die Klientel in den Sozialämte­rn etwas geändert: „Es kommen mehr Menschen mit einem höheren Einkommen, als wir es bisher gewohnt waren.“
Foto: Marc Wilwert Laut der Präsidenti­n der „Entente des offices sociaux“, Ginette Jones, hat sich die Klientel in den Sozialämte­rn etwas geändert: „Es kommen mehr Menschen mit einem höheren Einkommen, als wir es bisher gewohnt waren.“
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Foto: Luc Deflorenne „Hätte die Regierung nichts unternomme­n, wären die Zahlen explodiert. Jedoch sind diese Hilfen alle zeitlich begrenzt“, sagt die Politikbea­uftragte der Caritas, Carole Reckinger.
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Foto: Guy Jallay Die aktuellen Hilfen sind aus Sicht der Sozialämte­r und der Caritas nur ein Tropfen auf den heißen Stein, weil das Problem nicht an der Wurzel gepackt wird. Die Wurzel ist und bleibt die Wohnungspr­oblematik.

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