Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung
26
„Paps“, sagte Gaylord, „du hörst ja gar nicht zu. Er konnte das doch gar nicht machen, stimmt’s? Wenn er den Baum bis zu ihrem Haus getragen hätte, wäre doch das Rebhuhn davon geflogen, oder?“
„Ich glaube, das darf man nicht so wörtlich nehmen“, sagte Paps. Sein Interesse wurde wach. „Aber andererseits, muss ich gestehen, hatte diese Geschichte für mich nie etwas Symbolisches.“
„Oh“, sagte Gaylord. Er dachte nach. „Vielleicht hat er das Huhn an einem Zweig festgekettet oder so.“
Er stand auf und sah seinen Vater mit aufgerissenen Augen an. „Aber das wäre doch grausam gewesen, findest du nicht, Paps?“
„Ja“, sagte Paps. „Gehst du jetzt ins Bett?“
„Nacht“, sagte Gaylord. „Ist jetzt schon nächstes Jahr?“
„Ja.“Der Sprachfanatiker in Paps sehnte sich danach, zu erklären, dass es niemals nächstes Jahr sein könne, aber er war zu müde.
„Ich wette, dass ’ne Menge Leute dieses Jahr sterben werden“, sagte Gaylord.
„Warum, um Gottes willen?“Dastunsiedochimmer“, sagte Gaylord. „Millionen.“„Und was hast du gemacht?“, fragte Mummi und streckte sich wohlig im Bett. Ununterbrochen gebechert. Und mit Gaylord in die Zukunft geschaut.“
„Was habt ihr denn gesehen?“„Ich überhaupt nichts. Aber Gaylord stellte die Prognose, dass dieses Jahr ein Haufen Leute sterben würden. Er sagt, das täten sie immer.“
„Warum, um Himmels willen, ist er denn noch mal aufgestanden?“
„Er musste sich von einem schlimmen Traum erholen. Ach ja, im Übrigen habe ich ihm einen Aufklärungsvortrag gehalten.“
„Großer Gott. Wie hat er denn reagiert?“
„Er hat sich totgelacht. Hielt es für die komischste Geschichte seit der Witwe Bolte.“
„Damit könnte er recht haben“, sagte Mummi.
„Paps hasste und fürchtete Silvester. Rose aber hasste und fürchtete gleich mehrere Tage im Jahr – immer die ersten nach den Ferien.
Sie wachte schon lange vor Morgengrauen auf, hatte in der molligen Dunkelheit die Knie weit heraufgezogen, und wusste genau, dass dies ihre letzten friedlichen Minuten waren. Sowie der Wecker schrillte, hieß es, hinaus ins feindliche Leben und hinein in ein neues Trimester. Jedes Mal dachte sie, ich schaffe es nicht. Jedes Mal schaffte sie es doch. Ihre Tapferkeit musste selbst Engel zu Tränen rühren. Aber es kam sie hart an. Menschen wie Rose stehen jeden lieben Arbeitstag einem Exekutionskommando gegenüber.
Das Wintertrimester war das schlimmste. Jedermann war übellaunig und erkältet, die ganze Schule roch nach nassem Zeug und Eukalyptusbonbons. Und dann diese Morgenstunden, diese entsetzlich düsteren Morgenstunden im gnadenlosen elektrischen Licht. Nicht einmal der Gedanke, Bobs wiederzusehen, vermochte der Aussicht, an einem kalten Januarmorgen zu diesen grässlichen Knaben und Mädchen zurückkehren zu müssen, etwas von ihrem Schrecken zu nehmen.
Gaylord sagte zu Mummi: „Kennst du den Mann, der seiner Frau ein Rebhuhn auf einem Birnbaum brachte?“
„Ja“, sagte Mummi.
„Na, das konnte er doch gar nicht. Wenn er nämlich den Baum zu ihrem Haus getragen hätte, mit dem Rebhuhn drauf, wäre das Rebhuhn doch fortgeflogen, oder?“
„Ich könnte mir denken, dass er schon mit dem Baum allein genug zu tun hatte, ohne auch noch auf den verflixten Vogel achten zu müssen“, sagte Mummi. „Willst du eine Mohrrübe haben?“
„Ja, bitte“, sagte Gaylord, der Mummi beim Kochen half. Er knabberte daran. „Wo kriegst du eigentlich die Babys her?“
„Aus dem Kaufhaus“, antwortete Mummi abwesend.
„Wie bitte?“
Mummi war sehr beschäftigt. „Hör mal“, sagte sie, ich dachte, das hättest du alles schon mit Paps besprochen?“
Gaylord verschluckte sich beinahe. „Paps sagt, sie kommen den Damen aus dem Leib. Der ist vielleicht komisch, was?“
„Er hat ganz recht“, sagte Mummi, während sie anfing, die Kartoffeln zu schälen. Aber so ging es wohl doch nicht. Sie trocknete sich die Hände ab und setzte sich an den Küchentisch. „Du lebst auf dem Lande“, sagte sie. „Du weißt doch, wie es bei den Tieren ist. Also gut, bei den Menschen ist es genauso.“Sie nahm Gaylords Hand. „Gaylord, ich werde wieder ein Baby bekommen.
Und bei mir ist es genauso.“Sie machte das doch wirklich großartig. Sie war über sich selbst gerührt. „Es ist alles ganz natürlich.“
Gaylords Gedanken wanderten zur Sau Bessie. „Du meinst, du … wirfst Junge?“, fragte er.
Mummi schwieg. „Ja“, sagte sie schließlich. „Ich würde es vielleicht nicht ganz so ausdrücken, aber … so ähnlich ist es wohl.“
Gaylord betrachtete seine Mutter mit ganz neuem Interesse, ja, mit einer ganz neuen Hochachtung. Er hätte nie gedacht, dass sie so etwas konnte. „Darf ich dabei zugucken?“, fragte er begierig. „Nein“, sagte Mummi.
„Opa hat mich aber bei Bessie zugucken lassen“, sagte Gaylord enttäuscht.
Mummi sagte: „Obwohl Bessie und ich biologisch vieles gemein haben mögen, hoffe ich doch, dass es zwischen uns kleine Unterschiede in Wesen und Charakter gibt.“
Den letzten Satz bekam Gaylord nicht so ganz mit. Er klammerte sich daher an eines der Worte, die er begriffen hatte. „Was für Unterschiede?“
Mummi wurde ungeduldig. „Mein Gott, Gaylord, wenn du zwischen mir und einer alten Sau keinen Unterschied sehen kannst, dann kann ich dir auch nicht helfen.“
Sie stand auf und ging zum Spülbecken zurück. Zu ihrer eigenen Überraschung war sie dem Weinen nahe. Sie war wirklich über sich selbst erstaunt.