Gefährlicher Nietzsche
Die Neuauflage des deutschsprachigen Standardwerkes zur Rechtsphilosophie reagiert auf aktuelle Entwicklungen
In den deutschsprachigen Ländern gehört das Studienbuch „Rechtsphilosophie und Rechtstheorie“des Zürcher Hochschullehrers Matthias Mahlmann zur Standardlektüre von Jurastudenten. Die erste Auflage erschien im Jahr 2010 und hatte 345 Seiten. Zu Beginn des Jahres 2023 legt der Nomos-Verlag nun die siebte Auflage vor, sie umfasst 540 Seiten. Von Auflage zu Auflage wächst der Umfang des Buches, was wegen der einzigartigen Darstellung der philosophischen Grundlagen des Rechts für den Leser erfreulich ist. Interessant ist aber vor allem, welche Ausführungen jeweils hinzugefügt werden.
Diesmal geht es vor allem um Friedrich Nietzsche, den man schon fast vergessen hatte. Doch der von 1844 bis 1900 auf Erden weilende Philosoph erfährt in manchen Kreisen eine Renaissance, was Mahlmann ersichtlich für gefährlich hält. Der Schwärmerei für den radikalen Kritiker zentraler Begriffe von Ethik und Recht setzt Mahlmann eine gelungene Analyse der Kritik von Ideologien der Ungleichheit und Menschenverachtung entgegen. „Viele seiner Argumente überzeugen nicht, seine schein-biologischen und rassentheoretischen Überlegungen sind offensichtlich absurd.“Das ändere aber nichts daran, dass er sich mit seinen Einsichten und Irrtümern in dem Raum der Gründe bewegt, den Menschen allgemein teilen. Mahlmann weist Nietzsches Ethik verschiedene analytische Defizite nach. Die gegenwärtigen anthropologischen Erkenntnisse wiesen zudem in eine ganz andere Richtung als Nietzsches weitgehend spekulative Thesen – „und dies sowohl historisch-genealogisch als auch moralpsychologisch.“
Moralpsychologisch spricht viel für die Existenz angeborener kognitiver Anlagen von Menschen zur Entwicklung differenzierter normativer Begriffswelten, auch wenn die Einzelheiten heiß umstritten sind. „Derartige psychologische Befunde schaffen keine normativen Gründe, müssen aber in einer Genealogie der Moral auf der Höhe des Erkenntnisstandes der Gegenwart berücksichtigt werden.“Nietzsches Vertragstheorie der Schuld helfe aus diesen Gründen nicht weiter. Seine materiale Ethik ist ebenfalls wenig überzeugend: „Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten können nicht nur nicht moralisch gerechtfertigt werden, sie haben auch sonst nichts Anziehendes – wer einmal aus der Nähe gesehen hat, was mit den vielen Verletzten, Vergewaltigten, Ausgebeuteten und Vernichteten genau geschieht, bedarf darüber keinerlei Belehrung.“
Mahlmann zerlegt Nietzsches hierarchische Ordnung blonder Bestien analytisch versiert und mit erfreulich moralischem Kompass, der die Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Zurück bleibt die Vermutung, dass all die Nietzsche-Fans unserer Zeit den kompletten Nietzsche wohl nie gelesen haben, während Mahlmann in seinem Buch immer Primärquellen zitiert. Hier erleben wir einen Sachbuchautor, der sich nicht auf andere Sachbücher stützt, sondern auf Originalquellen – ein Umstand, der dem Buch gut tut und zu seinem großen Erfolg beiträgt.
Nicht unerwähnt soll bleiben, dass in der Neuauflage auch ein hervorragender Abschnitt zu Hannah Arendt hinzugefügt wurde. Auch dies ist vermutlich den Zeitläuften geschuldet und als Kontrapunkt zu Nietzsche zu verstehen. Ihr Hauptwerk, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, wird angesichts der russischen Angriffskriege wieder vermehrt gelesen. Arendt beschreibt unter anderem, wie sich der Antisemitismus im 20. Jahrhundert von jeder Tatsachengrundlage gelöst habe und ein riesiges Phantasiegebilde geworden sei, was seine politische Schlagkraft nur erhöht habe. Die Utopie der Volksgemeinschaft sei geworden, alle Angehörigen in Sklavenhalter zu verwandeln. Rassismus sei eine politische Waffe geworden durch die „Einteilung der Menschen in Herren- und Sklavenrassen“. Dagegen sei die soziale Welt tatsächlich durch Pluralität gekennzeichnet. Menschen seien sich zwar in ihrer Menschheit gleich, als Individuum aber voneinander unterschieden.
Diese Unterschiede erzeugten eine Vielzahl von Perspektiven, die nicht aufgehoben, wohl aber unterdrückt werden könnten, was im Totalitarismus geschehe. Mahlmann bezeichnet die Auseinandersetzung mit den Gewaltregimen der Menschheitsgeschichte (Nationalsozialismus, Stalinismus, usw.) als „eine Art Lackmustest für die Ethik und Rechtsphilosophie“. Ob ethische und rechtsphilosophische Erwägungen etwas zu sagen haben oder heiße Luft produzieren, beweist sich an ihrer kritischen Kraft gegenüber Diktatur und Massenmord. Mahlmanns Werk besitzt in der nun vorliegenden 7. Auflage diese kritische Kraft wie nie zuvor: Es ist, angesichts des Krieges in Europa, ein fulminantes Plädoyer für eine Erkenntnistheorie, die die Kategorien der sachlichen Wahrheit und normativen Richtigkeit hochhält und zugleich eine praktische Philosophie entfaltet, die totalitäre Systeme ablehnt.
Die Kräfte jedoch, die totalitäres Unheil hinaufbeschwören, sind in Europa noch lebendig und werden nach Mahlmanns Ansicht lebendiger: „ein zutiefst beunruhigender Befund“. Umso wichtiger, dass Jurastudenten in Deutschland, Österreich und Mahlmanns Heimat, der Schweiz, mit diesem Buch lernen. Es ist indes auch anderen Lesern zu empfehlen. Denn Wahr und Falsch sind dringend zu unterscheiden, das moralisch Richtige vom nicht Rechtfertigbaren ebenso.