Was Whistleblower Raphaël Halet heute über LuxLeaks denkt
Er war eine der Quellen in dem Skandal, der 2014 Luxemburg in seinen Grundfesten erschütterte
Die Genugtuung kam spät für Raphaël Halet. Mitte Februar dieses Jahres bestätigte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dass er nicht als Krimineller zu sehen ist, sondern als Whistleblower, der im allgemeinen Interesse handelte.
Vor etwa einem Jahrzehnt reichte er Dokumente seines Arbeitgebers PricewaterhouseCoopers (PwC) an einen Journalisten weiter und half damit öffentlich zu machen, dass die Beratungsgesellschaft für ihre Kunden und im Zusammenspiel mit den Behörden Steuervermeidung im industriellen Maßstab betrieb. 2014 erschütterte der sogenannte „LuxLeaks“-Skandal Luxemburg in seinen Grundfesten. Plötzlich saß das Großherzogtum international auf der Anklagebank als Helfershelfer der Großkonzerne, der ihnen dabei half, ihre Gewinne am Fiskus vorbeizuschleusen.
Danach begann ein juristischer Spießrutenlauf für Halet. Der französische Staatsbürger wurde im Juni 2016 wegen Weitergabe der Dokumente in Luxemburg zu einer Bewährungsstrafe von neun Monaten und einer Geldstrafe verurteilt. Halet versuchte, eine Rücknahme des Urteils zu erreichen, erlitt aber zunächst immer wieder Niederlagen vor Gericht. Die Gerichtskosten türmten sich auf.
Der Skandal prägt sein Leben weiterhin
Im Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“ist Halet sehr aufgeräumt. Wir treffen uns in einem hippen Café im Zentrum von Metz. Bereits 20 Minuten vor dem vereinbarten Zeitpunkt sitzt er auf dem Sofa und erwartet uns. Sein Englisch ist seit seiner Zeit bei der Unternehmensberatung etwas eingerostet, aber er gibt sich Mühe, gegen den Lärm des Klaviers anzubrüllen, das drei Meter entfernt von zwei Studentinnen malträtiert wird. Den Kuchen, der vor ihm steht, rührt er während des etwa einstündigen Interviews nicht an.
Bereits im Vorfeld war deutlich geworden, wie sehr die Ereignisse, die bald zehn Jahre her sind, weiterhin Halets Leben prägen. In seinem E-Mail-Fuß findet sich ein „LuxLeaks“-Logo, ein Link zu seiner „LuxLeaks“Webseite und der Hinweis auf eine Spendenkampagne, um seine Gerichtskosten zu decken. Eigentlich sei er Fotograf, sagt er, bis zu seinem Einstieg bei PwC habe er kaum Kontakt zur Finanzwelt gehabt. In den frühen 2000er Jahren hielt er sich mit einer Reihe von Gelegenheitsjobs über Wasser, darunter im Bausektor und in einem CallCenter.
„Ein Job wie jeder andere“
Schließlich habe er 2006 die Arbeit als Assistent des Leiters der Steuerabteilung von PwC angenommen. „Ich wusste weder viel über die Finanzbranche noch über Luxemburg. Ich hatte keine besonderen Erwartungen. Es war ein Job wie jeder andere“, sagt er. Halet kommt aus bescheidenen Verhältnissen, er wurde von den Großeltern aufgezogen. „Das war schon ein ziemlicher Kontrast zwischen dem kleinen Dorf, in dem ich lebte, und Luxemburg. Die Stadt kam mir vor wie New York, mit den großen Gebäuden, den teuren Autos. Geld schien keine Rolle zu spielen“, erinnert er sich.
Das Gehalt sei gut gewesen. „Ich habe meine Arbeit gemacht, es gab nie irgendwelche Beschwerden“, sagt er. Außerhalb der Arbeit habe er aber kaum Kontakt zu seinen Kollegen gehabt. Die Fluktuation der Mitarbeiter sei sehr hoch gewesen. „Die Leute waren da, um Geld zu verdienen“, sagt er. „Ich habe mich in Luxemburg wie ein Fremder gefühlt.“
Die ersten Jahre hatte er ansonsten wenig an seiner Arbeit auszusetzen. „Damals habe ich nicht viel davon verstanden. Ich war ein bisschen wie ein Arbeiter, der am Fließband ein Teil herstellt, ohne wirklich zu wissen, wofür es verwendet wird“, sagte er einmal gegenüber „Le Monde“.
Der Groschen sei bei ihm gefallen, als er die Fernsehsendung „Cash Investigation“verfolgte, eine Recherche des Journalisten Édouard Perrin über die Steuersparpraktiken großer Firmen. Danach sah er die Tax Rulings – Vorbescheide, in denen die Luxemburger Behörden die Steuerkonstrukte von PwC absegneten – und die Steuerunterlagen, die regelmäßig über seinen Schreibtisch wanderten, mit anderen Augen.
„Ich verstand, dass ich Teil des Systems zur Steuervermeidung war. Dafür hatte ich nicht unterschrieben, und das entsprach nicht meinen Werten. „Ich wollte etwas tun, um die Regeln dieses abgekarteten Spiels zu verändern“, so Halet. Gleichzeitig sei ihm bewusst geworden, dass in Bezug auf die Steuerpraktiken der großen Konzerne nur die Spitze des Eisbergs öffentlich bekannt war. „Das wollte ich ändern“, sagt er.
Ich verstand, dass ich Teil des Systems zur Steuervermeidung war. Raphaël Halet
Spießrutenlauf für den Whistleblower
In seinem Job in der Steuerabteilung hatte er Zugriff auf tausende vertrauliche Unterlagen, die Details über die Steuerkonstrukte multinationaler Konzerne enthielten. Anonym stellte er dem französischen Journalisten Edouard Perrin 16 Dokumente mit Informationen, unter anderem zu Amazon und ArcelorMittal, zur Verfügung, aus denen hervorging, wie das System der Steuervermeidung funktionierte. Zusammen mit den umfangreicheren Leaks von Antoine Deltour, einem anderen Whistleblower, der ebenfalls bei PwC Luxemburg ge
Als ich 2012 mit dem Journalisten in Kontakt trat, ahnte ich nicht, was passieren würde. Aber in dem Moment tat ich, was ich tun musste. Raphaël Halet
arbeitet hatte, fügte sich das Bild zu der LuxLeaks-Affäre zusammen, die eine verheerende Wirkung auf die internationale Wahrnehmung Luxemburgs hatte.
Was danach für Halet folgte, mutet geradezu bizarr an: Wenige Wochen nachdem der Skandal öffentlich wurde, erhielt er, der sich zu diesem Zeitpunkt nach einem Unfall im Krankenhaus aufhielt, einen Anruf der französischen Polizei, die ihn bat, sofort nach Hause zu kommen, weil in sein Haus eingebrochen worden sei. Hastig trat er den Heimweg an. Zuhause erwartete ihn die Polizei zusammen mit seinem Vorgesetzten in der Steuerabteilung, der Personalchefin und dem Leiter der Rechtsabteilung von PwC. Sein Arbeitgeber hatte herausgefunden, dass er einer der Quellen Perrins war. Der angebliche Einbruch war nur ein Vorwand, um ihn nach Hause zu locken, so Halet.
Nachdem er Laptop, Tablet-Computer nebst zugehörigen Passwörtern ausgehändigt hatte, wurde er von den PwC-Managern über mehrere Stunden befragt. „Sie sagten zu mir, es
handele sich lediglich um eine Diskussion zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, also antwortete ich auf die Fragen“, erzählt Halet. „Aber irgendwann sagte ich, dass mir das seltsam vorkommt. Wenn es eine offizielle Befragung ist, warum stellen Sie dann die Fragen und nicht der Polizist? Wenn es eine Sache zwischen mir und PwC ist, warum ist die Polizei dann dabei?“Das Ziel dieser Vorgehensweise sei gewesen, möglichst viel Druck auf ihn aufzubauen, so Halet. PwC betonte hingegen stets, im Einklang mit französischem und luxemburgischem Recht gehandelt zu haben.
Er verlor seine Arbeit. Wenige Tage später unterzeichnete er, diesmal im Beisein seines Anwaltes, ein Non-Disclosure-Agreement. Darin wurde eine hohe Vertragsstrafe festgelegt, die Halet zu zahlen hätte, wenn er nochmal über seine Rolle bei den Leaks spricht.
Erst nachdem Perrin, Halet and Deltour wegen ihrer Rolle in dem Skandal angeklagt wurden, entband der Richter ihn von der Schweigepflicht. Halet wurde wegen des Durchstechens der Informationen zunächst zu einer neunmonatigen Bewährungsstrafe und einer Geldstrafe von 1.000 Euro verurteilt.
Langjähriger Kampf vor Gericht
Seither kämpfte Halet vor Gerichten, um zu erreichen, dass die Verurteilung aufgehoben und er als Whistleblower anerkannt wird. Nun hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass die Luxemburger Gerichte ihn zu Unrecht verurteilt haben und sprachen ihm eine Entschädigung von 15.000 Euro zu, sowie 40.000 Euro, um seine Prozesskosten zu begleichen.
Dass sich seither etwas Wesentliches an den Praktiken der Großkonzerne geändert habe, glaubt Halet indes nicht. „Nein, vielleicht hat sich die Form der Steueroptimierung geändert, aber ansonsten ist es Business-as-usual“, sagt er. „Der Dieb ist der Polizei immer einen Schritt voraus, wie man in Frankreich sagt.“Dennoch bereut er seine Entscheidung nicht, an die Öffentlichkeit gegangen zu sein. „Als ich 2012 mit dem Journalisten in Kontakt trat, ahnte ich nicht, was passieren würde. Aber in dem Moment tat ich, was ich tun musste“, sagt er.
Die Geschichte fand letztlich ein glückliches Ende für Halet, der inzwischen in Frankreich im Staatsdienst arbeitet. Er will sich weiter im Kampf gegen die Steuervermeidung engagieren. Geld sei genug da, um die großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel oder den weltweiten Hunger anzugehen. „Die Frage ist eher, ob der politische Wille vorhanden ist, nach dem Geld zu suchen, das Konzerne wie Amazon und Ikea nicht an Steuern zahlen.“