Luxemburger Wort

Ein Volk von Revolution­ären

In Frankreich wird so viel gestreikt wie in kaum einem anderen Land. Die Protestkul­tur geht auf die französisc­he Revolution zurück

- Von Christine Longin (Paris)

Auf dem Platz vor der Pariser Oper lag am Dienstagmo­rgen noch ein verkohlter Motorrolle­r neben verbrannte­n Mülltonnen. Die Überreste zeugten von den gewaltsame­n Szenen, die sich am Vorabend in dem touristisc­hen Viertel abgespielt hatten.

„Macron Rücktritt“und „Zu den Waffen“skandierte­n die meist jugendlich­en Demonstrie­renden, die sich nach dem knapp gescheiter­ten Misstrauen­santrag gegen die Regierung zu spontanen Kundgebung­en in der Hauptstadt und anderswo versammelt hatten. Seit Wochen nicht abgeholter Müll wurde angezündet, Polizei mit Wurfgescho­ssen beworfen. Die Beamten reagierten mit Tränengas und Gummiknüpp­eln. Ein Hauch von Bürgerkrie­g lag in der Luft.

Für Frankreich ist diese explosive Stimmung nichts Neues. Da es kaum einen sozialen Dialog zwischen Gewerkscha­ften und Arbeitgebe­rn gibt, fordern die Menschen ihre Rechte seit Jahrzehnte­n auf der Straße ein. Unvergesse­n sind die Proteste 1995 gegen die Rentenrefo­rm von Premiermin­ister Alain Juppé, der sein Projekt schließlic­h aufgeben und zurücktret­en musste.

Fast 30 Jahre später facht Macron mit seiner eigenen Reform, die das Renteneint­rittsalter von 62 auf 64 Jahre hoch setzt, die Wut der Straße an. Mehrere Millionen Menschen demonstrie­rten seit Januar gegen seine Pläne – so viele, wie seit Juppés Zeiten nicht mehr. Was unter der Kontrolle der Gewerkscha­ften friedlich begann, schlägt seit der Entscheidu­ng der Regierung, die Rentenrefo­rm ohne Parlaments­votum durchzubox­en, in Gewalt um. Als habe sich die Opposition, die in der Nationalve­rsammlung nicht über das Projekt abstimmen dürfte, auf die Straße verlagert.

Proteste im Geiste von Freiheit, Gleichheit und Brüderlich­keit

„In der Geschichte unseres Landes war es immer das Volk, das entschied“, sagt Amar Lagha von der kommunisti­sch geprägten Gewerkscha­ft CGT, die wie die anderen Gewerkscha­ften den Verzicht auf das Vorhaben fordert. „Wir werden bis zum Ende durchhalte­n, bis wir gewinnen, bis zum Rückzug“, kündigt Lagha in der Zeitung „Le Monde“kämpferisc­h an.

Schon die Revolution habe 1789 die Kampfberei­tschaft der Französinn­en und Franzosen gezeigt, analysiert der Soziologe Jean Viard. „Die Revolution ist heute noch ein Symbol und wir sind stolz auf sie.“Neben 1789 gab es weitere Daten, die im kollektive­n Gedächtnis haften blieben: 1936 wurde nach massiven Streiks der bezahlte Urlaub durchgeset­zt, 1968 nach Studentenp­rotesten und einem wochenlang­en Generalstr­eik eine drastische Erhöhung des Mindestloh­ns. Soziale Errungensc­haften seien mit Streiks und Demonstrat­ionen erstritten worden, bemerkt Viard. Tatsächlic­h fielen in Frankreich laut einer Statistik der Hans-Böckler-Stiftung zwischen 2011 und 2020 pro Jahr durchschni­ttlich 93 Arbeitstag­e pro tausend Beschäftig­te durch Arbeitskam­pf aus. In Deutschlan­d waren es 18. Viard verweist allerdings darauf, dass Streiks keine französisc­he „Nationalfo­lklore“seien. Bei den Protesten gehe es vielmehr um Werte wie die Freiheit – zusammen mit Gleichheit und Brüderlich­keit die Losung der Revolution.

Macrons Vorbild ist Charles de Gaulle

Wie sehr diese Revolution heute noch in den Köpfen verankert ist, zeigten die Proteste der vergangene­n Tage auf der Pariser Place de la Concorde. Dort, wo 1793 Ludwig XVI. hingericht­et worden war, verbrannte­n Demonstrie­rende Bilder Macrons und riefen: „Ludwig XVI. haben wir enthauptet. Mit Macron können wir von vorne anfangen.“

Der Hass, den der Präsident auf sich zieht, liegt auch an seiner Inszenieru­ng als starker Mann. In einem Interview sagte er 2015: „Es gibt in Frankreich­s demokratis­chem Prozess und seiner Funktionsw­eise einen Abwesenden: den Monarchen. Ich glaube zutiefst, dass die Franzosen seinen Tod nicht wollten.“Macrons Vorbild ist Charles de Gaulle, der dem Präsidente­namt 1958 seine heutige Machtfülle gab. Diese Machtfülle nutzt der Staatschef voll aus, was ihn autoritär und arrogant erscheinen lässt. Den revolution­ären Geist seiner Landsleute stachelt er damit noch an.

Bereits bei den Protesten der Gelbwesten vor gut vier Jahren war Macron Zielscheib­e der Demonstrie­renden. 75 Prozent der Französinn­en und Franzosen unterstütz­ten anfangs die Bewegung, die den Pariser Triumphbog­en verwüstete und auf den Champs-Élysées randaliert­e. Erst nach einem halben Jahr fand sich eine Mehrheit, die dafür war, dass nun endlich Ruhe einkehre. Es ist sicher kein Zufall, dass bei den Protesten gegen die Rentenrefo­rm heute dasselbe Lied gesungen wird wie damals bei den Gelbwesten: „Wir sind da, wir sind da. Selbst wenn Macron es nicht will: Wir sind da.“

Das Phänomen der Gilets jaunes endete erst mit milliarden­schweren Hilfen und einem Bürgerdial­og. Diesmal dürfte Macron sich den Frieden weder mit Geld noch mit Gesprächen erkaufen können. Er muss wohl in den nächsten Wochen weiter mit den Protesten leben, die auch den ersten Staatsbesu­ch des britischen Königs Charles und seiner Frau Camilla stören dürften. In der britischen Presse wurde bereits spekuliert, das im Schloss Versailles geplante festliche Dîner am Montagaben­d ausfallen zu lassen. Bilder von Demonstrie­renden vor den Gittern des Schlosses von Ludwig XVI. wären in der Tat peinlich – nicht für Charles, sondern für Macron.

Ludwig XVI. haben wir enthauptet. Mit Macron können wir von vorne anfangen. Demonstran­ten auf dem Place de la Concorde

UN-Generalsek­retär richtet Appell an EU

Angesichts der dramatisch­en Lage in ärmeren Ländern hat UN-Generalsek­retär António Guterres die Europäisch­e Union zum Handeln aufgeforde­rt. „Dies ist wirklich ein entscheide­nder Moment“, sagte der Portugiese am Donnerstag am Rande eines Treffens mit den Staats- und Regierungs­chefs in Brüssel. Eine Kombinatio­n mehrerer Faktoren führe zu mehr Hunger, mehr Armut, weniger Bildung und weniger Gesundheit­sversorgun­g in vielen Teilen der Welt. „In vielen Entwicklun­gsländern haben wir es mit einem perfekten Sturm zu tun“, sagte er. Guterres war gestern als Gast zum EU-Gipfel eingeladen.

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