Ein Volk von Revolutionären
In Frankreich wird so viel gestreikt wie in kaum einem anderen Land. Die Protestkultur geht auf die französische Revolution zurück
Auf dem Platz vor der Pariser Oper lag am Dienstagmorgen noch ein verkohlter Motorroller neben verbrannten Mülltonnen. Die Überreste zeugten von den gewaltsamen Szenen, die sich am Vorabend in dem touristischen Viertel abgespielt hatten.
„Macron Rücktritt“und „Zu den Waffen“skandierten die meist jugendlichen Demonstrierenden, die sich nach dem knapp gescheiterten Misstrauensantrag gegen die Regierung zu spontanen Kundgebungen in der Hauptstadt und anderswo versammelt hatten. Seit Wochen nicht abgeholter Müll wurde angezündet, Polizei mit Wurfgeschossen beworfen. Die Beamten reagierten mit Tränengas und Gummiknüppeln. Ein Hauch von Bürgerkrieg lag in der Luft.
Für Frankreich ist diese explosive Stimmung nichts Neues. Da es kaum einen sozialen Dialog zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern gibt, fordern die Menschen ihre Rechte seit Jahrzehnten auf der Straße ein. Unvergessen sind die Proteste 1995 gegen die Rentenreform von Premierminister Alain Juppé, der sein Projekt schließlich aufgeben und zurücktreten musste.
Fast 30 Jahre später facht Macron mit seiner eigenen Reform, die das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre hoch setzt, die Wut der Straße an. Mehrere Millionen Menschen demonstrierten seit Januar gegen seine Pläne – so viele, wie seit Juppés Zeiten nicht mehr. Was unter der Kontrolle der Gewerkschaften friedlich begann, schlägt seit der Entscheidung der Regierung, die Rentenreform ohne Parlamentsvotum durchzuboxen, in Gewalt um. Als habe sich die Opposition, die in der Nationalversammlung nicht über das Projekt abstimmen dürfte, auf die Straße verlagert.
Proteste im Geiste von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit
„In der Geschichte unseres Landes war es immer das Volk, das entschied“, sagt Amar Lagha von der kommunistisch geprägten Gewerkschaft CGT, die wie die anderen Gewerkschaften den Verzicht auf das Vorhaben fordert. „Wir werden bis zum Ende durchhalten, bis wir gewinnen, bis zum Rückzug“, kündigt Lagha in der Zeitung „Le Monde“kämpferisch an.
Schon die Revolution habe 1789 die Kampfbereitschaft der Französinnen und Franzosen gezeigt, analysiert der Soziologe Jean Viard. „Die Revolution ist heute noch ein Symbol und wir sind stolz auf sie.“Neben 1789 gab es weitere Daten, die im kollektiven Gedächtnis haften blieben: 1936 wurde nach massiven Streiks der bezahlte Urlaub durchgesetzt, 1968 nach Studentenprotesten und einem wochenlangen Generalstreik eine drastische Erhöhung des Mindestlohns. Soziale Errungenschaften seien mit Streiks und Demonstrationen erstritten worden, bemerkt Viard. Tatsächlich fielen in Frankreich laut einer Statistik der Hans-Böckler-Stiftung zwischen 2011 und 2020 pro Jahr durchschnittlich 93 Arbeitstage pro tausend Beschäftigte durch Arbeitskampf aus. In Deutschland waren es 18. Viard verweist allerdings darauf, dass Streiks keine französische „Nationalfolklore“seien. Bei den Protesten gehe es vielmehr um Werte wie die Freiheit – zusammen mit Gleichheit und Brüderlichkeit die Losung der Revolution.
Macrons Vorbild ist Charles de Gaulle
Wie sehr diese Revolution heute noch in den Köpfen verankert ist, zeigten die Proteste der vergangenen Tage auf der Pariser Place de la Concorde. Dort, wo 1793 Ludwig XVI. hingerichtet worden war, verbrannten Demonstrierende Bilder Macrons und riefen: „Ludwig XVI. haben wir enthauptet. Mit Macron können wir von vorne anfangen.“
Der Hass, den der Präsident auf sich zieht, liegt auch an seiner Inszenierung als starker Mann. In einem Interview sagte er 2015: „Es gibt in Frankreichs demokratischem Prozess und seiner Funktionsweise einen Abwesenden: den Monarchen. Ich glaube zutiefst, dass die Franzosen seinen Tod nicht wollten.“Macrons Vorbild ist Charles de Gaulle, der dem Präsidentenamt 1958 seine heutige Machtfülle gab. Diese Machtfülle nutzt der Staatschef voll aus, was ihn autoritär und arrogant erscheinen lässt. Den revolutionären Geist seiner Landsleute stachelt er damit noch an.
Bereits bei den Protesten der Gelbwesten vor gut vier Jahren war Macron Zielscheibe der Demonstrierenden. 75 Prozent der Französinnen und Franzosen unterstützten anfangs die Bewegung, die den Pariser Triumphbogen verwüstete und auf den Champs-Élysées randalierte. Erst nach einem halben Jahr fand sich eine Mehrheit, die dafür war, dass nun endlich Ruhe einkehre. Es ist sicher kein Zufall, dass bei den Protesten gegen die Rentenreform heute dasselbe Lied gesungen wird wie damals bei den Gelbwesten: „Wir sind da, wir sind da. Selbst wenn Macron es nicht will: Wir sind da.“
Das Phänomen der Gilets jaunes endete erst mit milliardenschweren Hilfen und einem Bürgerdialog. Diesmal dürfte Macron sich den Frieden weder mit Geld noch mit Gesprächen erkaufen können. Er muss wohl in den nächsten Wochen weiter mit den Protesten leben, die auch den ersten Staatsbesuch des britischen Königs Charles und seiner Frau Camilla stören dürften. In der britischen Presse wurde bereits spekuliert, das im Schloss Versailles geplante festliche Dîner am Montagabend ausfallen zu lassen. Bilder von Demonstrierenden vor den Gittern des Schlosses von Ludwig XVI. wären in der Tat peinlich – nicht für Charles, sondern für Macron.
Ludwig XVI. haben wir enthauptet. Mit Macron können wir von vorne anfangen. Demonstranten auf dem Place de la Concorde
UN-Generalsekretär richtet Appell an EU
Angesichts der dramatischen Lage in ärmeren Ländern hat UN-Generalsekretär António Guterres die Europäische Union zum Handeln aufgefordert. „Dies ist wirklich ein entscheidender Moment“, sagte der Portugiese am Donnerstag am Rande eines Treffens mit den Staats- und Regierungschefs in Brüssel. Eine Kombination mehrerer Faktoren führe zu mehr Hunger, mehr Armut, weniger Bildung und weniger Gesundheitsversorgung in vielen Teilen der Welt. „In vielen Entwicklungsländern haben wir es mit einem perfekten Sturm zu tun“, sagte er. Guterres war gestern als Gast zum EU-Gipfel eingeladen.