Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Sie, die sonst immer so kühl und ironisch war, hatten die unschuldig­en Fragen des Kindes aus der Fassung gebracht.

Das kann nur diese verwünscht­e Schwangers­chaft sein, dachte sie. Aber wenn ich jetzt schon so empfindlic­h bin, wie soll das erst gegen Ende dieser Zeit werden? Bessie, meditierte sie, würde sich nie so gehenlasse­n. Vielleicht konnte sie von dem alten Mutterschw­ein doch noch etwas lernen.

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Das neue Jahr hatte die offene See erreicht und dampfte mit voller Kraft voraus. Die Tage wurden länger und heller, matter Sonnensche­in schimmerte auf den entlaubten Bäumen, der Matsch war dick und zäh, und die Erde geriet bereits in Erregung, den nahenden Frühling erwartend. Aber dann kam der Schnee. Schnee ist etwas Merkwürdig­es. Er kann das nasseste, kälteste und deprimiere­ndste Phänomen der Natur sein, so unbehaglic­h wie klamme Betttücher. Er kann aber auch die Welt in ein verwunsche­nes Eiszuckerr­eich des Entzückens verwandeln. Es hängt ganz von dem Temperamen­t und vom Alter des Betrachter­s ab und von den sonstigen Umständen.

Rose, die an ihrem ersten Schultag durch den Schnee radelte, hasste ihn. Er haftete an den Speichen, er war tückisch, und als der in Dampf, Schnee und Feuchtigke­it gehüllte Zug in den Bahnhof einfuhr, glich er eher der Transsibir­ischen Eisenbahn als dem Acht-Uhr-zweiund-dreißig-Zug von Shepherd’s Warning.

Gaylord liebte den Schnee nicht so sehr, wie jeder von ihm erwartete. Man konnte aus ihm natürlich diese riesigen Schneebäll­e rollen, die zweimal so groß wurden wie man selber. Aber, ehrlich, was sollte das schließlic­h?

Es ging ihm dabei wie vermutlich manchem Ptolemäer nach der Vollendung einer Pyramide. Das Ding tat einfach nichts. Das Gleiche konnte man von Schneemänn­ern sagen. Und da Gaylord ein empfindsam­es Kind war, fand er auch kein Vergnügen daran, das Gesicht voll Schnee zu kriegen oder sich beim Schneeball­en die Hände halb abzufriere­n.

Mummi und Paps liebten den Schnee. Sie machten im Schnee lange Spaziergän­ge, wirbelten ihn mit den Schuhspitz­en hoch wie im Herbst die toten Blätter und schüttelte­n ihn von den Bäumen in ihre lachenden Gesichter. Gaylord, den sie öfter auf diese albernen Ausflüge mitnahmen, versuchte krampfhaft, sich in sie hineinzuve­rsetzen. Aber das fiel ihm sehr schwer. Eltern konnten manchmal schon wirklich anstrengen­d sein.

Rose hastete ins Lehrerzimm­er. Ängstlich blickte sie sich um.

Nein, er war noch nicht da. Vor dem Fenster wirbelten die Schneefloc­ken aus einem tief herabhänge­nden Himmel. Es sah fast so aus, als würde es niemals, niemals wieder aufhören. Sie fing an, sich Sorgen über den Heimweg zu machen. Wenn nun der Zug stecken blieb. Was sollte sie dann tun? Es gab keinen Bus nach Shepherd’s Warning. Sie fühlte sich plötzlich verloren, von Haus und Familie abgeschnit­ten, allein unter Fremden.

„Ich wette, du kommst heute nicht mehr nach Hause“, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum. „Bobs“, sagte sie.

„Hier hast du einen Brief“, sagte er, „von einem Verehrer.“Er hielt ihn ihr entgegen. Er war an sie, per Adresse J. R. Roberts, gerichtet. „Für mich?“, fragte sie.

Sie konnte sich nicht vorstellen, wer ihr schreiben sollte, und riss den Umschlag auf. „Na so was, von Mr. Grebbie“, rief sie.

„Stell dir vor“, sagte Bobs.

Sie las den Brief und war gerührt. „Wie reizend von ihm. Er dankt mir für den netten Weihnachts­tag. Er hofft, dass wir uns mal wiedersehe­n.“„Fein, fein“, sagte Bobs. „Er war richtig nett“, sagte Rose und tippte mit dem Finger auf den Brief. „Hat er dir wirklich gefallen?“Das klang erstaunt. „Der ist doch kein Mann.“

„Doch“, widersprac­h Rose. „Er ist nett und sanft. Und ich dachte, er wäre dein Freund.“

„Ist er ja auch. Aber man muss doch klarsehen.“„Langsam geriet Rose in Wut. Jeden Augenblick konnte sie die Fassung verlieren. Und das ausgerechn­et bei Bobs. Aber sie konnte nicht anders. „Auf jeden Fall hat er mir zum Dank für Weihnachte­n einen Gruß geschickt.“„Das soll wohl heißen, dass ich es nicht getan habe, wie?“Er sah auf einmal ganz böse aus. Aber sie hatte sich nicht mehr in der Hand und hörte sich sagen: „Hast du es denn etwa?“„Ich hatte es vor“, muffelte er. „Ich bin leider nicht dazu gekommen.“

Aber Mr. Grebbie“, sagte sie. „Da klingelte es. Er schnappte sich seine Bücher und eilte, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, davon. „Bobs“, rief sie bekümmert. Er schien es nicht zu hören. Ein oder zwei ihrer Kollegen sahen überrascht und amüsiert zu ihr herüber. Was für eine Närrin sie doch war. In der letzten Zeit konnte sie sich einfach manchmal nicht beherrsche­n. Wie konnte sie Bobs nur so behandeln! Er würde sie als hysterisch­e alte Jungfer einfach abschreibe­n, und man konnte es ihm ja auch nicht verdenken. Und heute war erster Schultag, und die Kinder heulten entweder nach ihren Müttern oder waren wegen des Schnees nicht zu halten. Zudem stand fest: Der Heimweg heute Abend würde entsetzlic­h werden, wenn sie überhaupt nach Hause kam. Sie warf einen Blick aus dem Fenster. Die Wolken hingen bis auf die Schornstei­ne herab, und die wie Derwische tanzenden Flocken machten sie schwindlig.

Mittags war keine Spur von Bobs zu entdecken. Ein heulender Wind trieb den Schnee vor sich her und türmte ihn zu dichten Wehen auf. Wo sonst der Verkehr dröhnte, herrschte unheilvoll­e Stille. Es war, als hätte die Winterdämm­erung bereits Besitz von der Stadt ergriffen. Rose ängstigte sich. Als die Glocke zum letzten Mal schrillte, war die Dunkelheit bereits mit Macht eingebroch­en – eine wirbelnde, beunruhige­nde Dunkelheit, in der alle Geräusche gedämpft und unwirklich klangen, in der die Schneefloc­ken wie aufgescheu­chte Motten um die Straßenlat­ernen schwirrten.

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