Todesfahrt auf der „Blutstraße“Route 60
Nach neuen Ausschreitungen wächst im Westjordanland die Angst vor einer Zunahme der Gewalt. Die Zwei-Staaten-Lösung wird noch unrealistischer
Die Siedler kommen meistens in der Nacht. Sie zünden palästinensische Häuser an, entwurzeln Olivenbäume, verwüsten Felder, zerstören Solarpanel oder demolieren Autos. Auch tagsüber leben die Palästinenser in Angst. „Wir fürchten uns, die Straße zum nächsten Dorf zu benutzen“, sagt Lafi Shalabi, der Bürgermeister von Turmus Aja, den wir in seinem Büro treffen.
Seine Kleinstadt liegt an der Route 60, die im Westjordanland, an palästinensischen und israelischen Kommunen vorbeiführt. Ein großer Teil der Gewalt dort findet seit Jahren entlang dieser Straße statt.
Nicht von ungefähr hat sie den makabren Spitznamen „Blood Highway“, Blutstraße.
„Fast täglich“komme es in Turmus Aja zu Attacken von Siedlern, sagt Shalabi. Und, meint er: „Die angrenzende Siedlung Schilo hat uns einen Teil des Landes weggenommen.“
Bürgerwehr für israelische Siedler
Ende Februar geriet die Route 60 (wieder einmal) weltweit in die Schlagzeilen. Zwei Siedler wurden aus nächster Nähe erschossen, während sie auf der Blutstraße durch die palästinensische Stadt Huwara nach Hause fuhren. Im Nu rächten sich Siedler für den Mord. Sie stürmten Huwara, zündeten Hunderte von Häusern an, brannten Autos nieder.
Was wie eine spontane Wut-Reaktion der Siedler aussah, war in Wirklichkeit ein in allen Details geplanter Überfall, wie die israelische Polizei inzwischen ermittelt hat. Die vermummten Angreifer mieden zum Beispiel bewusst Straßen, wo Kameras installiert waren. Bei den Ausschreitungen kam ein Palästinenser ums Leben, mehrere Dutzend wurden verletzt. „Was in Huwara passiert ist, war ein Pogrom, der von Gesetzesbrechern durchgeführt wurde“, sagte Generalmajor Yehuda Fuchs, der für das Westjordanland zuständig ist, in einem Interview mit dem israelischen TV-Sender Channel 12 News.
Die Gewalt der Siedler, meint Shalabi, der Bürgermeister von Turmus Aja, gehöre zwar seit Jahren zum Alltag. „Aber was in Huwara geschah, war ein Weckruf, vor allem jetzt, da bei uns erneut ein Haus angezündet und Scheiben eingeschlagen wurden“. Deshalb habe die Stadt eine Bürgerwehr auf die Beine gestellt. Sie schiebt in der Nacht Wache, um die Siedler abzuschrecken. „Wir sind auf uns allein gestellt“, sagt Shalabi unter dem Bild von Mahmoud Abbas, dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), „wir sind die Soldaten von Abbas. Aber die israelische Armee schränkt unseren Aktionsradius ein, sodass wir uns nicht richtig gegen die Siedler wehren können“.
Siedlungen auch nach israelischem Recht illegal
Dort, wo Siedler in Turmus Aja angegriffen haben, wohnt Awad Abu Samra. Ein Dutzend meist jugendlicher Siedler sei kurz vor Mitternacht auf der Böschung vor seinem Haus gestanden. Über eine Whatsapp-Gruppe habe er die Nachbarschaftswache alarmiert. „Der Angriff fand vor den Augen der israelischen Streitkräfte statt, aber sie standen uns nicht bei“, sagt er.
Zurück auf die Route 60, die alte Fernstraße, die schon in biblischen Zeiten Städte wie Nazareth, Jerusalem, Bethlehem und Hebron miteinander verband. Diese historische Strecke zog religiös-nationalistische israelische Siedler in das Westjordanland, nachdem Israel das Gebiet 1967 erobert hatte. Die israelischen Siedlungen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten unaufhaltsam ausgeweitet. Die meisten Siedlungen wurden ursprünglich in der Nähe der Grünen Linie errichtet.
Die Planer, die die Grenzen eines zukünftigen Palästinas festlegten, sahen im Osloer Friedensprozess vor, dass diese Siedlungen letztendlich in Israel eingegliedert würden, vielleicht im Rahmen eines Landtauschs mit den Palästinensern. Inzwischen sind aber, tief in der Westbank, zahlreiche Ansiedlungen gegründet worden, die auch nach israelischem Recht illegal sind. Die Außenposten erschweren – manche würden sagen verunmöglichen – die Realisierung der Zwei-Staaten-Lösung.
Einer dieser Außenposten ist Har Gilad, Hügel des Gilad, knapp zehn Autominuten nördlich von Turmus Aja entfernt. Er ist nach Harel Bin Nun benannt, der vor 25 Jahren Opfer eines Terroranschlags geworden war. Givat Harel ist einer der neun von der Regierung angekündigten Außenposten, die im Schnellverfahren legalisiert werden sollen.
Gewalttätige Siedler seien nicht repräsentativ
Shvutya Levi wohnt seit 28 Jahren in Givat Harel, einem Weiler mit 100 Familien und einer Sicht, die an die Toskana erinnert. Der lokale Weinberg ist preisgekrönt, der Kindergarten überfüllt. Die Zahl der Bewohner hat sich, seit sie sich auf dem Hügel in der Westbank niedergelassen hat, vervierfacht. Hier, sagt die sechsfache Mutter, könne sie ihren „zionistischen Traum“verwirklichen und Teil des Siedlungsprojektes sein. Ob sie Angst vor Terrorangriffen habe? Dass ihre Häuser in der Nacht von Freiwilligen bewacht werden, die von der Armee ausgebildet wurden, gebe ihr ein Gefühl der Sicherheit, zumal die Zufahrt von Soldaten bewacht werde. Aber Sorgen mache ihr, dass die Straße nach Jerusalem, die Route 60, „sehr gefährlich“sei, weil dort stets mit palästinensischem Terror zu rechnen sei. „Und doch“, sagt sie dann, „das Risiko lohnt sich“. Denn sonst sei in Givat Harel alles bestens, zumindest fast alles, korrigiert sich die Keramikkünstlerin schnell. Wenn sie Töpferkurse gebe, falle mitunter der Strom aus. „Dann stehen die Drehscheiben still“.
Was in Huwara passiert ist, sei „natürlich nicht akzeptabel“, sagt sie dann. Aber man dürfe nicht vergessen, dass dies die Reaktion auf den Mord an zwei Israelis gewesen sei. Die Medien, kritisiert sie, würden zudem unterschlagen, dass die gewalttätigen Siedler nicht repräsentativ seien.
„Es ist ein Kampf ums Land“, fasst die Siedlerlobbyistin Naomie Linder Kahn den Streit zwischen Siedlern und Palästinensern zusammen. Die Direktorin von Regavim, einer NGO, die sich nach eigenen Angaben für die „Verhinderung der illegalen Beschlagnahme von staatlichem Land“
Was in Huwara passiert ist, war ein Pogrom, der von Gesetzesbrechern durchgeführt wurde. Generalmajor Yehuda Fuchs, Zuständiger für das Westjordanland
durch die Palästinenser einsetzt, wirft den Palästinensern vor, ständig mehr Territorium in Beschlag zu nehmen. „Sie erobern Land, ohne eine einzige Kugel zu schießen“, sagt die Lobbyistin vor dem Hintergrund der Siedlung Shilo, die sie als „das Herz der jüdischen Geschichte“bezeichnet: „Das biblische Narrativ ist hier zu Hause“.
Justizreform macht Siedlungspläne wahrscheinlicher
Nicht die Siedler, sondern die Palästinenser in „Judäa und Samaria“, wie sie die Westbank mit biblischem Namen nennt, würden ihren Fußabdruck ständig ausweiten. Sie breitet eine Landkarte mit unzähligen Punkten aus. Vor 30 Jahren, als der damalige Premier Yitzchak Rabin und Palästinenserführer Jassir Arafat die Osloer Abkommen unterzeichneten, seien 60 Prozent der Westbank von Israel und 40 Prozent von den Palästinensern kontrolliert worden, sagt sie.
Und meint: „Heute ist es gerade umgekehrt.“Die Palästinenser hätten mit einer Ausdehnung des landwirtschaftlichen Gebietes und illegaler Bauten immer mehr Land an sich gerissen. Sie würden ihre Ausbauprojekte aufgrund „politischer Kriterien“festlegen: „Entlang den Straßen und dicht an den Siedlungen“.
Sekundiert wird sie von Boaz Arzi, dem Chefjuristen von Regavim. Er freut sich zwar, dass die neue Regierung, in der mehrere Siedlervertreter den Ton angeben, die Legalisierung von neun Außenposten tief im Westjordanland beschlossen hat.
Aber der Oberste Gerichtshof werde wahrscheinlich Einwände gegen solche Legalisierungen erheben, und das Verfahren könnte deshalb noch Monate, wenn nicht Jahre dauern. Die Justizreform, die derzeit das Land entzweit, bringt jedoch eine Reihe umstrittener Gesetzentwürfe auf den Weg, die die Möglichkeiten der Richter, Kabinettsbeschlüsse aufzuheben, erheblich einschränken sollen. Dies ist einer der Gründe, warum die Siedlerführer zu den eifrigsten Befürwortern der Pläne zur Überarbeitung des Justizwesens gehören.
Awad Abu Samra, palestinensischer Einwohner von Turmus Aja
Finanzminister Bezalel Smotrich, der nicht nur Finanzminister ist, sondern auch für die Westbank im Verteidigungsministerium für die Westbank zuständig ist, hat vor 17 Jahren Regavim mitbegründet. Der Gründer der Rechtsaußen-Fraktion „Religiöse Zionisten“sagte einige Tage nach dem Doppelmord in Huwara, dass das Dorf „ausgelöscht werden“müsse.
Etwas später warnt er vor Selbstjustiz: „Ich denke, dass der Staat Israel das tun muss – und nicht, Gott bewahre, Privatpersonen.“Er trimmt das Siedlerprojekt auf Expansion und plant in Siedlungen etwa 10.000 Häuser. Das sei im Einklang mit den Gründungsprinzipien der Hardliner-Koalition. Der Bürgermeister von Turmus Ajai sieht deshalb schwierige Zeiten auf sich zukommen. Aber er gibt sich kämpferisch: Zu einer zweiten Nakba werde es nicht kommen, „wir werden uns nicht vertreiben lassen“. Was nur eines bedeuten kann: Entlang der Route 60 wird weiterhin Blut fließen.