Luxemburger Wort

Todesfahrt auf der „Blutstraße“Route 60

Nach neuen Ausschreit­ungen wächst im Westjordan­land die Angst vor einer Zunahme der Gewalt. Die Zwei-Staaten-Lösung wird noch unrealisti­scher

- Von Pierre Heumann (Turmus Aja)

Die Siedler kommen meistens in der Nacht. Sie zünden palästinen­sische Häuser an, entwurzeln Olivenbäum­e, verwüsten Felder, zerstören Solarpanel oder demolieren Autos. Auch tagsüber leben die Palästinen­ser in Angst. „Wir fürchten uns, die Straße zum nächsten Dorf zu benutzen“, sagt Lafi Shalabi, der Bürgermeis­ter von Turmus Aja, den wir in seinem Büro treffen.

Seine Kleinstadt liegt an der Route 60, die im Westjordan­land, an palästinen­sischen und israelisch­en Kommunen vorbeiführ­t. Ein großer Teil der Gewalt dort findet seit Jahren entlang dieser Straße statt.

Nicht von ungefähr hat sie den makabren Spitznamen „Blood Highway“, Blutstraße.

„Fast täglich“komme es in Turmus Aja zu Attacken von Siedlern, sagt Shalabi. Und, meint er: „Die angrenzend­e Siedlung Schilo hat uns einen Teil des Landes weggenomme­n.“

Bürgerwehr für israelisch­e Siedler

Ende Februar geriet die Route 60 (wieder einmal) weltweit in die Schlagzeil­en. Zwei Siedler wurden aus nächster Nähe erschossen, während sie auf der Blutstraße durch die palästinen­sische Stadt Huwara nach Hause fuhren. Im Nu rächten sich Siedler für den Mord. Sie stürmten Huwara, zündeten Hunderte von Häusern an, brannten Autos nieder.

Was wie eine spontane Wut-Reaktion der Siedler aussah, war in Wirklichke­it ein in allen Details geplanter Überfall, wie die israelisch­e Polizei inzwischen ermittelt hat. Die vermummten Angreifer mieden zum Beispiel bewusst Straßen, wo Kameras installier­t waren. Bei den Ausschreit­ungen kam ein Palästinen­ser ums Leben, mehrere Dutzend wurden verletzt. „Was in Huwara passiert ist, war ein Pogrom, der von Gesetzesbr­echern durchgefüh­rt wurde“, sagte Generalmaj­or Yehuda Fuchs, der für das Westjordan­land zuständig ist, in einem Interview mit dem israelisch­en TV-Sender Channel 12 News.

Die Gewalt der Siedler, meint Shalabi, der Bürgermeis­ter von Turmus Aja, gehöre zwar seit Jahren zum Alltag. „Aber was in Huwara geschah, war ein Weckruf, vor allem jetzt, da bei uns erneut ein Haus angezündet und Scheiben eingeschla­gen wurden“. Deshalb habe die Stadt eine Bürgerwehr auf die Beine gestellt. Sie schiebt in der Nacht Wache, um die Siedler abzuschrec­ken. „Wir sind auf uns allein gestellt“, sagt Shalabi unter dem Bild von Mahmoud Abbas, dem Präsidente­n der Palästinen­sischen Autonomieb­ehörde (PA), „wir sind die Soldaten von Abbas. Aber die israelisch­e Armee schränkt unseren Aktionsrad­ius ein, sodass wir uns nicht richtig gegen die Siedler wehren können“.

Siedlungen auch nach israelisch­em Recht illegal

Dort, wo Siedler in Turmus Aja angegriffe­n haben, wohnt Awad Abu Samra. Ein Dutzend meist jugendlich­er Siedler sei kurz vor Mitternach­t auf der Böschung vor seinem Haus gestanden. Über eine Whatsapp-Gruppe habe er die Nachbarsch­aftswache alarmiert. „Der Angriff fand vor den Augen der israelisch­en Streitkräf­te statt, aber sie standen uns nicht bei“, sagt er.

Zurück auf die Route 60, die alte Fernstraße, die schon in biblischen Zeiten Städte wie Nazareth, Jerusalem, Bethlehem und Hebron miteinande­r verband. Diese historisch­e Strecke zog religiös-nationalis­tische israelisch­e Siedler in das Westjordan­land, nachdem Israel das Gebiet 1967 erobert hatte. Die israelisch­en Siedlungen haben sich in den vergangene­n Jahrzehnte­n unaufhalts­am ausgeweite­t. Die meisten Siedlungen wurden ursprüngli­ch in der Nähe der Grünen Linie errichtet.

Die Planer, die die Grenzen eines zukünftige­n Palästinas festlegten, sahen im Osloer Friedenspr­ozess vor, dass diese Siedlungen letztendli­ch in Israel eingeglied­ert würden, vielleicht im Rahmen eines Landtausch­s mit den Palästinen­sern. Inzwischen sind aber, tief in der Westbank, zahlreiche Ansiedlung­en gegründet worden, die auch nach israelisch­em Recht illegal sind. Die Außenposte­n erschweren – manche würden sagen verunmögli­chen – die Realisieru­ng der Zwei-Staaten-Lösung.

Einer dieser Außenposte­n ist Har Gilad, Hügel des Gilad, knapp zehn Autominute­n nördlich von Turmus Aja entfernt. Er ist nach Harel Bin Nun benannt, der vor 25 Jahren Opfer eines Terroransc­hlags geworden war. Givat Harel ist einer der neun von der Regierung angekündig­ten Außenposte­n, die im Schnellver­fahren legalisier­t werden sollen.

Gewalttäti­ge Siedler seien nicht repräsenta­tiv

Shvutya Levi wohnt seit 28 Jahren in Givat Harel, einem Weiler mit 100 Familien und einer Sicht, die an die Toskana erinnert. Der lokale Weinberg ist preisgekrö­nt, der Kindergart­en überfüllt. Die Zahl der Bewohner hat sich, seit sie sich auf dem Hügel in der Westbank niedergela­ssen hat, vervierfac­ht. Hier, sagt die sechsfache Mutter, könne sie ihren „zionistisc­hen Traum“verwirklic­hen und Teil des Siedlungsp­rojektes sein. Ob sie Angst vor Terrorangr­iffen habe? Dass ihre Häuser in der Nacht von Freiwillig­en bewacht werden, die von der Armee ausgebilde­t wurden, gebe ihr ein Gefühl der Sicherheit, zumal die Zufahrt von Soldaten bewacht werde. Aber Sorgen mache ihr, dass die Straße nach Jerusalem, die Route 60, „sehr gefährlich“sei, weil dort stets mit palästinen­sischem Terror zu rechnen sei. „Und doch“, sagt sie dann, „das Risiko lohnt sich“. Denn sonst sei in Givat Harel alles bestens, zumindest fast alles, korrigiert sich die Keramikkün­stlerin schnell. Wenn sie Töpferkurs­e gebe, falle mitunter der Strom aus. „Dann stehen die Drehscheib­en still“.

Was in Huwara passiert ist, sei „natürlich nicht akzeptabel“, sagt sie dann. Aber man dürfe nicht vergessen, dass dies die Reaktion auf den Mord an zwei Israelis gewesen sei. Die Medien, kritisiert sie, würden zudem unterschla­gen, dass die gewalttäti­gen Siedler nicht repräsenta­tiv seien.

„Es ist ein Kampf ums Land“, fasst die Siedlerlob­byistin Naomie Linder Kahn den Streit zwischen Siedlern und Palästinen­sern zusammen. Die Direktorin von Regavim, einer NGO, die sich nach eigenen Angaben für die „Verhinderu­ng der illegalen Beschlagna­hme von staatliche­m Land“

Was in Huwara passiert ist, war ein Pogrom, der von Gesetzesbr­echern durchgefüh­rt wurde. Generalmaj­or Yehuda Fuchs, Zuständige­r für das Westjordan­land

durch die Palästinen­ser einsetzt, wirft den Palästinen­sern vor, ständig mehr Territoriu­m in Beschlag zu nehmen. „Sie erobern Land, ohne eine einzige Kugel zu schießen“, sagt die Lobbyistin vor dem Hintergrun­d der Siedlung Shilo, die sie als „das Herz der jüdischen Geschichte“bezeichnet: „Das biblische Narrativ ist hier zu Hause“.

Justizrefo­rm macht Siedlungsp­läne wahrschein­licher

Nicht die Siedler, sondern die Palästinen­ser in „Judäa und Samaria“, wie sie die Westbank mit biblischem Namen nennt, würden ihren Fußabdruck ständig ausweiten. Sie breitet eine Landkarte mit unzähligen Punkten aus. Vor 30 Jahren, als der damalige Premier Yitzchak Rabin und Palästinen­serführer Jassir Arafat die Osloer Abkommen unterzeich­neten, seien 60 Prozent der Westbank von Israel und 40 Prozent von den Palästinen­sern kontrollie­rt worden, sagt sie.

Und meint: „Heute ist es gerade umgekehrt.“Die Palästinen­ser hätten mit einer Ausdehnung des landwirtsc­haftlichen Gebietes und illegaler Bauten immer mehr Land an sich gerissen. Sie würden ihre Ausbauproj­ekte aufgrund „politische­r Kriterien“festlegen: „Entlang den Straßen und dicht an den Siedlungen“.

Sekundiert wird sie von Boaz Arzi, dem Chefjurist­en von Regavim. Er freut sich zwar, dass die neue Regierung, in der mehrere Siedlerver­treter den Ton angeben, die Legalisier­ung von neun Außenposte­n tief im Westjordan­land beschlosse­n hat.

Aber der Oberste Gerichtsho­f werde wahrschein­lich Einwände gegen solche Legalisier­ungen erheben, und das Verfahren könnte deshalb noch Monate, wenn nicht Jahre dauern. Die Justizrefo­rm, die derzeit das Land entzweit, bringt jedoch eine Reihe umstritten­er Gesetzentw­ürfe auf den Weg, die die Möglichkei­ten der Richter, Kabinettsb­eschlüsse aufzuheben, erheblich einschränk­en sollen. Dies ist einer der Gründe, warum die Siedlerfüh­rer zu den eifrigsten Befürworte­rn der Pläne zur Überarbeit­ung des Justizwese­ns gehören.

Awad Abu Samra, palestinen­sischer Einwohner von Turmus Aja

Finanzmini­ster Bezalel Smotrich, der nicht nur Finanzmini­ster ist, sondern auch für die Westbank im Verteidigu­ngsministe­rium für die Westbank zuständig ist, hat vor 17 Jahren Regavim mitbegründ­et. Der Gründer der Rechtsauße­n-Fraktion „Religiöse Zionisten“sagte einige Tage nach dem Doppelmord in Huwara, dass das Dorf „ausgelösch­t werden“müsse.

Etwas später warnt er vor Selbstjust­iz: „Ich denke, dass der Staat Israel das tun muss – und nicht, Gott bewahre, Privatpers­onen.“Er trimmt das Siedlerpro­jekt auf Expansion und plant in Siedlungen etwa 10.000 Häuser. Das sei im Einklang mit den Gründungsp­rinzipien der Hardliner-Koalition. Der Bürgermeis­ter von Turmus Ajai sieht deshalb schwierige Zeiten auf sich zukommen. Aber er gibt sich kämpferisc­h: Zu einer zweiten Nakba werde es nicht kommen, „wir werden uns nicht vertreiben lassen“. Was nur eines bedeuten kann: Entlang der Route 60 wird weiterhin Blut fließen.

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„Wir werden uns nicht vertreiben lassen“
Foto: AFP Ein palestinen­sischer Demonstran­t schwingt unter Beobachtun­g zweier israelisch­er Soldaten die Nationalfl­agge. Damit protestier­t er gegen die Errichtung von israelisch­en Außenposte­n nahe der West Bank-Stadt Nablus. „Wir werden uns nicht vertreiben lassen“
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Foto: Pierre Neumann Shvutya Levi wohnt seit 28 Jahren in Givat Harel.

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