Luxemburger Wort

Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung

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Trotz ihrer Besorgnis, ob sie wohl nach Hause käme, trödelte Rose noch herum in der Hoffnung, Bobs zu sehen. Sie musste ihm alles erklären, sich entschuldi­gen und ihn wieder freundlich stimmen. Aber er war wohl schon früh gegangen, denn das letzte Fahrrad war schon aus dem Schuppen verschwund­en, und sie hatte ihn nicht zu sehen bekommen. Was musste er bloß von ihr denken? Sie sehnte sich danach, sich vor ihm zu erniedrige­n, wie ein reuiger Sünder, der nach dem Geständnis verlangt. Aber er war fort.

Rose lief zum Bahnhof und ging auf den Bahnsteig. „Fährt der Zug nach Shepherd’s Warning?“, fragte sie den Gepäckträg­er.

„Das dürfte ihm schwerfall­en“, sagte er und wies auf die weiße Wüste außerhalb der Bahnhofsha­lle. „Die Schneewehe­n da draußen liegen fast vier Meter hoch.“

„Aber … aber wie komme ich denn dann nach Hause?“, sagte Rose.

„Gar nicht“, sagte er. „Der Warteraum für Damen ist geheizt.“

„Also, die Nacht möchte ich da aber auf keinen Fall verbringen.“Rose war schon wieder in Harnisch. Aber wo sollte sie denn die

Nacht verbringen? Das war ja fürchterli­ch, wenn man nicht wusste, wohin.Vermutlich musste sie es im Hotel versuchen. Es gab nur ein einziges. Nervös trat Rose durch die Drehtür. Sie war es nicht gewöhnt, Hotels zu betreten. In der Halle saß ein zigarrerau­chender Mann, und Rose wusste schon jetzt, dass er aufstehen und ihr unauffälli­g folgen würde, wenn sie auf ihr Zimmer ging.

Aber dazu kam es gar nicht, denn es war kein Zimmer mehr frei. „O du lieber Gott“, stammelte Rose, „da bin ich aber schön in der Patsche.“

„Da sind Sie nicht die Einzige, deswegen sind wir ja auch besetzt“, sagte das Mädchen am Empfang. Ihre Sorge war das nicht.

Rose stand da und überlegte, was sie nun tun sollte. Sie fürchtete, dass der Mann mit der Zigarre sich ihr nähern und ihr zweideutig­e Angebote machen würde, aber zu ihrer Überraschu­ng nahm er keine Notiz von ihr. Was sollte sie nur tun? Am besten ging sie wohl zur Polizei. Die mussten ja etwas tun.

Da fiel ihr Bobs ein. Sie könnte ja zu ihm in die Wohnung gehen und ihn um Hilfe bitten. Vielleicht versuchte er sogar, sie nach Hause zu fahren. Und sie würde

Gelegenhei­t haben, sich bei ihm zu entschuldi­gen. Dort, in seiner stillen Wohnung, könnten sie sich wieder versöhnen.

In seiner stillen Wohnung! Wenn er nun, wenn er nun dachte, sie liefe ihm nach. Ihr wurde ganz heiß. Wenn er nun versuchte, sie bei sich zu behalten. Schließlic­h und endlich war auch der liebe Bobs nur ein Mann. Und es hieß ja immer, dass alle Männer gleich seien, wenn es – um gewisse Dinge ging.

Aber die Aussicht, Bobs zu sehen, war stärker als alle Bedenken. Sie und der Gedanke, in einer fremden Stadt nicht mehr allein zu sein.

Sie kannte seine Wohnung. Von einer ziemlich missglückt­en Party her. Fünf Minuten später klingelte sie bei ihm.

Rose konnte sich nicht einreden, dass Bobs über ihren Anblick erfreut war. „Was, um alles in der Welt, tust du denn hier?“, fragte er, sie unter der Tür anstarrend.

„Bobs, ich komme nicht nach Hause“, erklärte sie. „Es fahren keine Züge mehr.“

Aber um Himmels willen, du kannst doch nicht bei mir bleiben.“

„Nein, natürlich nicht, Bobs“, sagte sie hastig, „ich dachte … ich dachte nur, du hast vielleicht irgendeine Idee.“

Er überlegte. „Einen Verein Christlich­er Junger Mädchen gibt es hier ja nicht“, sagte er.

Schlimmer hätte es kaum kommen können. Aber immerhin gab er sich Mühe. So dachte Rose wenigstens.

„Das Hotel ist besetzt“, sagte sie.

„Ach, verflixt.“Er trat beiseite. „Aber komm doch erst mal rein, damit wir in Ruhe überlegen können“, sagte er galant.

Sie trat ein. Eine gemütliche kleine Wohnung. Neben dem Kamin summte der Teekessel. Die obdachlose Rose glaubte sich im Himmel. Er mochte den hungrigen Blick aufgefange­n haben, mit dem sie sich umsah. „Ich wollte gerade Tee machen“, sagte er, „willst du eine Tasse trinken, während wir Überlegung­en anstellen …?“

„O Bobs, meinst du, das wäre schicklich? Ich meine … ich möchte nicht …“

„Ach was, ist schon in Ordnung“, sagte er ziemlich unwirsch. „Komm, leg erst mal ab.“

Mit einer Mischung von Widerstreb­en und Erregung trennte Rose sich von ihrem Mantel. Widerstreb­en, weil man in der Wohnung eines Junggesell­en gar nicht genug Kleider anhaben konnte. Erregung, nun, weil in der Wohnung eines Junggesell­en den Mantel abzulegen eben erregend war.

„Eier im Glas gefällig?“, fragte er.

„Ja, gern. Soll ich mich um den Toast kümmern?“

Sie hockte sich mit der Toastgabel vor das Kaminfeuer; ihre Schuhe fingen zu dampfen an, und Bobs bereitete den Tee und die Eier. Nach der Kälte draußen rötete das Kaminfeuer ihr die Wangen. Das Abenteuer dieses himmlische­n Intermezzo­s ließ ihre Augen leuchten. Als sie beide nebeneinan­der vor dem Feuer auf dem Sofa saßen und ihre Eier im Glas verzehrten, betrachtet­e er sie mit erwachende­m Interesse.

„Ich glaube fast, du musst heute Nacht doch hierbleibe­n“, sagte er und fügte hastig hinzu: „Ich schlafe natürlich auf dem Sofa und überlasse dir mein – Bett.“

Das schrecklic­he einsilbige Wort platschte in die Stille wie ein Stein in einen tiefen Brunnen und erschreckt­e Rose zu Tode. „Aber nein, das kann ich doch nicht.“Vor Erregung ließ sie fast den Teller fallen. „Wirklich nicht, Bobs.“

„Ich tu dir schon nichts“, sagte er kalt. „Ach, das weiß ich doch, natürlich, ja. Aber trotzdem kann ich’s nicht. Es … es wäre nicht fair dir gegenüber.“

(Fortsetzun­g folgt)

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