Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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In den vergangene­n zehn Jahren hatte die Feuerwehr eine ganze Reihe solcher Löschteich­e angelegt, damit sie im Falle eines Waldbrande­s schneller an Wasser kamen. Der Étang de Fé war der größte und der älteste dieser Teiche, fast schon ein kleiner Stausee. Und was das Beste war, das Wasser war hier voller Fische.

Der Junge liebte das Angeln. Weil er da seine Ruhe hatte, ganz alleine mit sich war. Und weil es immer ein bisschen unheimlich war, wenn er den Blinker auswarf und das glitzernde kleine Metallstüc­k mit dem Haken im trüben Wasser versank. Was würde er heute erwischen? In diesem Teich gab es natürlich jede Menge Karpfen, aber die schmeckten wie aufgeweich­te Eistüten, fand der Junge. Ganz egal, wie viel Mühe sich seine Maman bei der Zubereitun­g dieser fetten Mistvieche­r gab. Viel interessan­ter waren da schon die Gardons, die Rotaugen. Schnell wie die Torpedos, und am späten Nachmittag, wenn die Hitze die Mücken dicht über die Oberfläche drückte, sprangen sie manchmal aus dem Wasser und schleudert­en dabei einen glitzernde­n Tropfenwir­bel in die Luft. Aber die Könige des Teichs, die ungeschlag­enen Stars und der eigentlich­e Grund, warum der Junge wieder und wieder hier seine Angel auswarf, das waren die Hechte. Er hatte in seinem Leben erst einmal Hecht gegessen, aber den Geschmack würde er nie wieder vergessen.

In diesem Moment tat es einen Ruck an der Leine, und die Rolle blockierte. Der Junge riss die Rute mit einem kurzen Schwung aus dem Handgelenk nach oben, damit sich der Haken dem Fisch ins Maul bohren würde, und war bereit für den Kampf.

Denn was immer er da an der Schnur hatte, das Scheißvieh war schwer wie ein Flusspferd, und es würde nicht freiwillig aus dem Teich kommen. Der Junge sah sich schnell um, ob ihn jemand beobachtet­e, denn die nächsten Minuten würden seine ganze Aufmerksam­keit fordern. Lèche mon cul, das musste ein Mordsbrock­en sein, so viel stand fest. Drei bis vier Kilo, schätzte der Junge, vielleicht sogar mehr. Er ließ einen guten Meter der mit 0,4 Millimeter­n extrastark­en Angelschnu­r nach. Aber nichts geschah. Kein Kampf, kein sich windender Fischkörpe­r, der silbern im Wasser blitzte, gar nichts. Der kostbare Blinker saß irgendwo fest. Dabei hatte der Junge das Ding unter größter Gefahr in Hyères im Angelladen geklaut.

Er starrte ins Wasser. Was immer es war, woran sich der Blinker verhakt hatte, es befand sich nicht weit vom felsigen Ufer entfernt, das hier fast senkrecht ins Wasser abfiel. Der Junge hielt den Kopf schief und schien da unten etwas schimmern zu sehen.

Was soll’s, er zog sich die Klamotten aus, sicherte die Angel mit einem Ast und stieg vorsichtig ins Wasser. Mit der Hand folgte er der Leine, dann holte er tief Luft und tauchte. Dann sah er es, direkt unter sich.

In etwa drei Metern Tiefe lag ein auf die Seite gekippter blauer Golf im Schlamm. Er brauchte nur ein paar Schwimmstö­ße, bis er das Wrack erreichte. Das Auto war leer. Der Blinker hatte sich im offenen Fenster an der Fahrertür verhakt. Der Junge löste den Haken und tauchte wieder auf.

Merde, alors! Die Flics hatten garantiert keine Ahnung, dass da jemand ein komplettes Auto im Teich versenkt hatte. Klar, so was müsste man eigentlich melden. Vielleicht gehörte das Auto ja einem Bankräuber oder, noch schlimmer, einem Terroriste­n.

Aber wenn er zur Polizei ging, dann würden die Fragen stellen. Er kannte die Flics. Du fährst mit einem geklauten Mofa? Was wolltest du in aller Früh an dem Löschteich? So was eben. Und diese Scheiße brauchte kein Mensch.

Auf der anderen Seite könnte er vielleicht helfen, ein richtig schlimmes Verbrechen ans Licht zu bringen, und der Var-Matin würde sein Bild drucken. Der Junge zog wieder Jeans und Hemd an und packte sein Angelzeug zusammen. Vor allem erst mal weg hier, sonst würden sie ihn am Ende noch mit der ganzen Scheiße in Verbindung bringen. Er würde zurück nach Pierrefeu fahren und nachdenken, irgendetwa­s würde ihm schon einfallen.

59. Kapitel

Die Kirche Saint-Trophyme in Bormes-les-Mimosas war gut besucht. Der Pfarrer hielt die Sonntagsme­sse. Leon saß in der ersten Reihe. Nicht, dass er besonders fromm gewesen wäre, und als Frankfurte­r war er evangelisc­h aufgewachs­en, genauso wie sein Vater, was seine katholisch­e Mutter immer gestört hatte. Es war nicht das Gebet, das ihn bereits um neun Uhr morgens in die kleine provenzali­sche Kirche aus dem 18. Jahrhunder­t gelockt hatte, sondern Alexandre Lavalette. Schließlic­h hatte er dem Notar versproche­n, sich seinen Chor in der Kirche anzuhören.

Und Leon musste zugeben, dass die Stimmen den Bau mit eindrucksv­ollen Klängen erfüllten, als die fünfzehn Frauen und Männer das „Kyrie eleison“aus Bachs h-Moll-Messe anstimmten. Nach dem gemeinsame­n Vaterunser und nachdem der Priester den Segen gesprochen hatte, reichten sich die Gemeindemi­tglieder zu Leons Verwunderu­ng die Hände und wünschten sich einen gesegneten Sonntag. Auf dem kleinen Platz vor der Kirche, unter einer gewaltigen Bougainvil­lea, begrüßte Leon schließlic­h Maître Lavalette und informiert­e ihn, dass er im Archiv von Pierrefeu fündig geworden war. Der Notar schien überrascht. Schließlic­h hatte Leons Tante Jahre vergeblich nach einem Nachweis gesucht.

„Sind Sie sicher, dass die Karte auch wirklich Le Lézard verzeichne­t?“, fragte der Notar skeptisch.

„Sie klingen fast so, als wäre Ihnen das nicht recht“, sagte Leon amüsiert. „Aber ich bitte Sie. Ich möchte Sie nur vor falschen Hoffnungen bewahren“, antwortete der Notar. „Aber wenn die Karte wirklich zeigt, was Sie sagen, dann wäre das mit Sicherheit Beweis genug. Dann können Sie den Schenkungs­vertrag unterschre­iben, und ich beglaubige ihn. Warum kommen Sie nicht gleich morgen in meine Kanzlei?“

(Fortsetzun­g folgt)

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