Kleine Komödien, die den Menschen in seiner Bosheit und Dummheit bloßstellen
Das TNL bringt die vergessene Welt von Georges Courteline auf die Bühne. Der Dramatiker verspottet mit scharfer Feder seine Mitmenschen auf grausame, aber zärtliche Weise
Vor etlichen Jahren entdeckte der Regisseur und Szenograf Jean Flammang in einem Antiquariat in Lausanne eine Anthologie mit Werken des französischen Dramatikers und Romanciers Georges Courteline (1858–1929). Darin enthalten waren auch viele seiner sogenannten Saynètes. Das sind kurze Stücke, die einst bei großen Theateraufführungen als Pausenfüller auf die Bühne kamen. Zirka 83 solcher Saynètes hat Courteline geschrieben. Jean Flammang, einer der Mitbegründer des Théâtre National du Luxembourg, hat zwölf ausgewählt und daraus ein abendfüllendes Theaterprogramm – natürlich auf Französisch – zusammengestellt. Die Premiere seines Stücks „Courteline. Saynètes“ist an diesem Mittwoch im TNL.
Das Wort „Saynètes“kommt übrigens nicht, wie man glauben könnte, von „Scènette“, sondern vom spanischen Wort „sainete“, der Bezeichnung für ein Stückchen Speck. Daher auch das französische Wort „saindoux“. Den Speck warf man den Falken zu, damit diese nach der Jagd wieder zum Falkner zurückkehrten. Und genauso hat man dem Theaterpublikum
zwischendurch kleine Komödien zugeworfen, damit das Publikum bei großen Bühnenschauspielen auch auf seine Kosten kommt. In der „Belle Époque“musste ein Theaterabend nämlich bis nach Mitternacht gehen. Und laut einer Anekdote soll ein Theaterdirektor sich bei Courteline kurzfristig gemeldet haben, um auf die Schnelle noch zwei Saynètes für sein Abendprogramm zu bekommen.
Brahms und viel Sammelsurium
Als vor zwei Jahren die Corona-Pandemie begann, hat Jean Flammang aus sei
ner Courteline-Anthologie die Saynètes gelesen. Auch wenn diese komödiantischen Stücke heutzutage nur selten aufgeführt werden, so sind sie dennoch erschreckend aktuell geblieben. Sie erzählen von der Bosheit und der Dummheit des Menschen, und daran hat sich mit der Zeit beileibe wenig geändert …
Einige Stücke haben natürlich auch etwas Schimmel angenommen. Die zwölf, die Flammang fürs TNL ausgesucht hat, sind allerdings so, als wären sie soeben erst geschrieben worden. „Mein Ziel war es, eine abwechslungsreiche Dramaturgie zu schaffen, und aus den zwölf Say
: Je melancholischer und romantischer die Brahms-Stücke sind, desto besser harmonieren sie mit Courteline. Jean Flammang, Regisseur
nètes ein Ganzes zu machen. Ich habe sie zusammengeheftet, und auch die Bühne stellt eine räumliche Klammer dar.“
Zwei Schauspieler, Denis Jousselin und Raoul Schlechter, befinden sich in einem Raum, fast wie in einem Terrarium. Anfangs ist dieser Raum leer, dann füllt er sich aber zunehmend im Verlauf des Stücks mit viel Sammelsurium. Alles Erdenkliche, was Flammang im Fundus des TNL finden konnte, gelangt auf die Bühne. Dabei sind auch Dinge, die ihn an seine vergangenen Stücke erinnern. Flammang hat Szenografien entworfen, hauptsächlich fürs TNL, das Grand Théâtre und das Théâtre du Centaure, aber auch für Stücke in Mannheim, Paris und Recklinghausen. Zudem führte er mehrfach Regie; zuletzt im TNL war er mit „Une chemise de nuit de flanelle“.
„Ich wollte, dass das Stück einen Rahmen bekommt, und habe deshalb dieses minimalistische Interieur eines bürgerlichen Hauses des 19. Jahrhunderts ausgewählt. Rechts und links stehen zwei Schränke, in der Mitte ein Klavier.“Ab und zu werden auch Textzeilen an die Wand projiziert. Sie kündigen die zwölf Saynètes an, sie vermitteln aber auch Regieanweisungen an die Schauspieler. „Damit will ich deutlich machen, dass in der Regie jemand sitzt, der fast schon wie ein Gott seine Schauspieler lenkt. Und es gibt noch eine dritte Figur, die ich als einen heimlichen Vertreter Gottes auf der Bühne betrachte – den Pianisten.“Mehr will Flammang dazu aber nicht verraten.
Jean Muller spielt auf dem Klavier sechs kleine Intermezzi von Johannes Brahms. Warum Brahms? „Beim Lesen der Saynètes während der Pandemie habe ich mir zufällig Brahms-Stücke angehört, und da war eines dabei, da fand ich, dass es sehr gut dazu passen könnte“, erklärt der Regisseur. „Je melancholischer und romantischer die Brahms-Stücke sind, desto besser harmonieren sie mit Courteline. Zudem war diese Musik damals, als Courteline seine Stücke geschrieben hat, zeitgenössische Musik.“Das Intermezzo, das den CourtelineAbend eröffnen und auch beenden wird, wurde übrigens in demselben Jahr uraufgeführt, als Courtelines bekannteste Theaterstück „Boubouroche“Premiere hatte. Das war 1873.
„Une soirée triste“– aber zum Lachen
Courteline war Büroangestellter, verbrachte aber den ganzen Tag im Bistro, wo er die Menschen beobachtete und seine Stücke schrieb. Seinen Chef störte das nicht, da er am Ende mit seinen Vaudeville so viel Geld verdiente, dass er dafür jemanden zahlen konnte, der an seiner Stelle seinen Bürojob verrichtete.
In „Courteline. Saynètes“wird der Zuschauer, teils gerührt, teils erstaunt, teils entsetzt, die Probleme von Menschen beobachten, die weder die Welt, noch ihre Mitmenschen, noch sich selbst verstehen. Die Frage bleibt: Warum lachen wir darüber? Es wird eine „soirée triste“, meint Flammang augenzwinkernd. Gibt es also gar nichts zum Lachen? „Doch, es darf und es muss auch gelacht werden“, betont der Regisseur „Es ist ein komödiantisches Stück.“Er verweist auf eine Anekdote, wonach eine Zuschauerin nach einer Courteline-Aufführung lachend gesagt haben soll: „Mon dieu, que c‘est triste.“
Und genau darin liegt das Geniale an Courteline. Sein Handwerkszeug ist das der Komödie, aber das Thema bleibt dennoch zutiefst traurig. Courteline ist insofern ein sehr moderner Dramatiker.
„Courteline.Saynètes“, auf Französisch, Premiere am Mittwoch, dem 10. Januar um 20 Uhr im TNL. Weitere Spieltermine: am 12.,18., 19. und 20. Januar jeweils um 20, am 14. Januar (sonntags) um 17 Uhr. Regie und Szenografie: Jean Flammang, mit Denis Jousselin, Raoul Schlechter und Jean Muller (Piano). Tickets: luxembourg-ticket.lu, Infos: tnl.lu