Ein Justizirrtum, der Menschenleben kostete
Die ehemalige britische Staatspost ging gegen Tausende Filialleiter vor. Hunderte wurden wegen angeblichen Betruges zu Unrecht verurteilt
Das neue Jahr begann für Rishi Sunak unerwartet hektisch. Schon beim ersten Kabinettstreffen nach den Winterferien am Dienstagmorgen mussten sich der Premier und seine führenden Minister mit einer Frage befassen, die in Großbritannien derzeit für viel Aufsehen sorgt: Was man unternehmen kann, um die Folgen des wohl größten Justizirrtums in der Geschichte des Landes endlich aus der Welt zu schaffen.
Der Skandal zieht sich seit vielen Jahren hin: Zwischen 1999 und 2015 hat Post Office, die privatisierte, ehemalige britische Staatspost, mehr als 3.500 private Betreiber kleinerer Postfilialen des Diebstahls und Betruges bezichtigt. In vielen Fällen zwang das Unternehmen die Beschuldigten dazu, fehlende Beträge nachzuzahlen, die in die Tausende gehen konnten. Hunderte der Beschuldigten brachte das Unternehmen vor Gericht. Mehr als 700 von ihnen wurden im Laufe der Jahre verurteilt. Etliche Existenzen gingen infolge der Verurteilungen zu Bruch. Mindestens vier der Beschuldigten nahmen sich das Leben.
Das Problem: 1999 hatte das Unternehmen in allen seinen Filialen das neue „Horizon“-Computersystem eingeführt, das ein Ableger des japanischen Fujitsu-Konzerns entwickelt hatte. Von Anfang an wiesen Betreiber von Postfilialen auf Unregelmäßigkeiten in den Abrechnungen der Software hin. Post Office ignorierte die Warnungen. Auch, als 2009 das Magazin „Computer Weekly“in einem detaillierten Bericht über die Probleme berichtete und Beweise dafür aufführte, dass Unschuldige wegen der Softwarefehler verurteilt worden sind, setzte das Unternehmen die Untersuchungen gegen die beschuldigten Filialleiter fort.
2019 urteilte der High Court in London, dass die Horizon-Software fehlerhaft war. 2020 setzte die Regierung eine öffentliche Untersuchung in Gang, die derzeit noch andauert. Trotz jahrelanger Klagen wurden bislang jedoch erst 93 der 736 Verurteilungen aufgehoben. Erst 30 Geschädigte haben Entschädigungen angenommen.
Dass das Thema gerade jetzt wieder hochkocht, hat mit einer Fernsehserie zu tun, die der Sender ITV über die Feiertage ausgestrahlt hat und die sich mit dem Skandal befasst. Neue Erkenntnisse gab es in der Serie nicht zu sehen. Viele Zuschauerinnen und Zuschauer, die sich bislang allenfalls am Rand mit dem Post Office-Skandal befasst haben, bekamen dadurch jedoch die gesamte Tragweite des Vorfalls gebündelt vorgeführt. Es gab einen öffentlichen Aufschrei. Premier Rishi Sunak sah sich zum Handeln gezwungen.
Die Regierung denkt nun darüber nach, eilig ein Gesetz auf den Weg zu bringen, mit dem sämtliche zu Unrecht Verurteilten auf einen Schlag rehabilitiert werden könnten. Die Regierung möchte Berichten zufolge auch dafür sorgen, dass die Betroffeneren schneller Entschädigungszahlungen erhalten solle, die sich auf Millionen belaufen könnten. Einige Regierungsvertreter dachten am Dienstag laut darüber nach, hierfür auch Fujitsu zur Kasse zu bitten, den Konzern, der die schadhafte Software geliefert hat.
Ein weiterer Grund für die öffentliche Empörung: Bislang ist noch keiner der Verantwortlichen beim Post Office rechtlich belangt worden. Die Polizei soll aber Berichten zufolge untersuchen, ob sich Post OfficeMitarbeiter rechtlich etwas zuschulden haben kommen lassen. Paula Vennells, die das Unternehmen zwischen 2012 und 2019 geführt hat, erklärte am Dienstag, dass sie ihre Ritterwürde zurückgeben würde, die sie 2019 erhalten hat.
Ein weiterer brisanter Aspekt des Skandals ist die rechtliche Sonderrolle, die das Post Office bis heute hat. Zwar trat das Unternehmen bei der Strafverfolgung der beschuldigten Filialleiter formell als Privatklägerin auf. Verhandelt wurden die Verfahren vor gewöhnlichen Gerichten. Das Unternehmen verfügt aber bis heute über spezielle Strafverfolgungsbefugnisse, die es zuvor als Staatspost hatte. Kritiker verlangen nun von der Regierung, zu klären, ob diese Befugnisse bei den Ermittlungen gegen die zu Unrecht beschuldigten Filialleiter eine Rolle gespielt haben könnten. Oppositionschef Keir Starmer verlangte, dem Unternehmen die Sonderbefugnisse zu entziehen.