Für Benjamin Netanjahu wird es immer enger
Israels Regierungschef galt als Garant für die nationale Sicherheit. Seit der Invasion der Hamas nehmen ihm das die meisten Bürger nicht mehr ab
Für Benjamin Netanjahu wird es immer enger. Während die Gefahr wächst, dass Israel im Zuge seiner Angriffe im Gazastreifen in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt wird, droht dem Premier nun auch innenpolitisches Chaos. Das Oberste Gericht kippte am Montag ein Kernelement seiner umstrittenen Justizreform – und versetzte Netanjahu damit einen heftigen Schlag. Ebenfalls diese Woche wurde vom Obersten Gericht ein weiterer Pfeiler der Justizreform kassiert, weil er, so das Argument, persönlich auf Netanjahu zugeschnitten sei.
Viele Israels sehen eine Querverbindung zwischen den innenpolitischen Spannungen und dem Krieg. Selbst Israels Armeesprecher Daniel Hagari sagte am Montag, die Hamas habe ihren Überfall möglicherweise auch deshalb am 7. Oktober ausgeführt, weil sie die israelische Gesellschaft im Chaos wähnte. Damit beschreibt er eine fatale Kettenreaktion, die auch dem israelischen Premier zur Last gelegt wird.
Tatsächlich hatte sich Benjamin Netanjahu vor Ausbruch des Krieges am 7. Oktober noch als Garant für Israels nationale Sicherheit inszeniert, doch seit der Invasion der Hamas nehmen ihm das die meisten Bürger nicht mehr ab.
Tausende Israelis fordern Rücktritt
Erstmals seit Beginn des Gazakriegs haben vor einer Woche Tausende Israelis an einer Demonstration in Tel Aviv den Rücktritt von Premier Benjamin Netanjahu gefordert. Hatte er sich bis vor Kurzem noch als Mr. Security gelobt, wird er jetzt von einem großen Teil der Öffentlichkeit für die verhängnisvollen Versäumnisse verantwortlich gemacht, die am 7. Oktober zum brutalen Angriff der Hamas geführt haben. Es war der tödlichste Angriff auf Israel seit dessen Gründung vor 75 Jahren. 1.200 Menschen wurden von der Hamas ermordet, gefoltert und vergewaltigt. Die Terrororganisation verschleppte zudem 240 Zivilisten und Soldaten als Geiseln in den Gazastreifen. 129 sind bis heute dort. Viele machen Netanjahu für das Total-Versagen der Armee an jenem schwarzen Samstag verantwortlich.
Jetzt muss er sich nicht nur die Frage gefallen lassen, wie es zu diesem Desaster kommen konnte. Er hat auch die Gefahr im Norden zu erklären: Weshalb hat er zugelassen, dass die Hisbollah im Libanon ein Arsenal von 150.000 Raketen aufbauen konnte, die auf Israel gerichtet sind? Auch im Iran-Dossier ist er den Bürgern eine Antwort schuldig: Wie ist es möglich, dass der Iran ein atomarer Schwellenstaat werden konnte, obwohl Netanjahu immer wieder behauptet hatte, dass eine iranische Atombombe eine existenzielle Gefahr für Israel wäre, und er deshalb die nuklearen Pläne Teherans durchkreuzen würde?
Für das Desaster vom 7. Oktober haben sowohl die Armee als auch die Geheimdienste Verantwortung übernommen, nicht aber Netanjahu. Mit dem Argument, dass man die Gründe für das Oktober-Fiasko erst nach dem Ende des Kriegs untersuchen werde, weil es jetzt darum gehe, die Hamas zu besiegen, verhindert der Premier jede Kritik an seiner bisherigen Politik, die es zugelassen hat, dass die Hamas ein Monster wurde. Er scheint sich keiner Schuld bewusst zu sein. Seine jüngste Behauptung, Israel sei in seiner Amtszeit stärker geworden, obwohl es sich in der schwersten Krise seiner Geschichte befindet, zeige nicht nur seine Realitätsferne, sondern auch seine Weigerung, Verantwortung für Israels ground zero zu übernehmen, oder in absehbarer Zeit zurückzutreten, twittert der israelische Axios-Analyst Barak Ravid.
Die große Mehrheit will Neuwahlen
Laut einer am 19. Dezember vom TV-Sender Channel 12 publizierten Meinungsumfrage hat „Bibi“das Vertrauen der meisten Bürger verloren. Mehr als 69 Prozent der Befragten befürworten vorgezogene Neuwahlen nach dem Krieg. Der Parteivorsitzende der Nationalen Einheit, Benny Gantz, hätte laut Umfrage freie Bahn für die Bildung einer Regierungskoalition, wenn heute Wahlen abgehalten würden. Eine weitere Umfrage der Bar-Ilan-Universität ergab, dass nur 24 Prozent der Israelis Netanjahu als die vertrauenswürdigste Quelle für Nachrichten über den Krieg gegen die Hamas ansehen. 73 Prozent der Befragten bezeichnen die offiziellen Militärsprecher als die „vertrauenswürdigste“Quelle. Netanjahu habe nicht mehr das Wohl des Landes vor Augen, sondern sein politisches und juristisches Seelenheil, sagt Avi Issacharoff, Arabien Spezialist beim Online-Portal Walla! und Ko-Autor der Netflixserie Fauda.
Im Laufe des bald drei Monate dauernden Kriegs hat das Ansehen des Langzeit-Premiers aus mehreren Gründen gelitten. Er habe zu wenig unternommen, um alle Geiseln aus den Klauen der Hamas zu befreien, wird
Für das Desaster vom 7. Oktober haben sowohl die Armee als auch die Geheimdienste Verantwortung übernommen, nicht aber Netanjahu.
ihm vorgeworfen. „Er hat auf die Invasion der Hamas ohne Konzept reagiert“, sagt zudem ein ehemaliger parlamentarischer Berater der Arbeitspartei. So hat es Netanjahu bisher versäumt, das Ziel des Gazakriegs konkret zu definieren. Die Formulierung „Ende der Hamasherrschaft“ist vieldeutig und vage und lässt offen, wann dieses Ziel erreicht ist. Zudem hat Netanjahu bisher keine Strategie für eine Nachkriegsordnung festgelegt. Er hat das Kabinett sogar daran gehindert, über den „Tag danach“zu diskutieren, weil das Resultat zu einer Konfrontation mit US-Präsident Biden führen könnte.
Netanjahu ist ein Gefangener seiner radikalen und messianischen Koalitionspartner. Sein Finanzminister Bezalel Smotrich von der rechts-religiösen Partei „HaTzionut HaDatit“(der religiöse Zionismus) sprach am Wochenende zum Beispiel von einer erneuten Besiedlung des Gazastreifens. Israel müsste die Kontrolle über die Grenze des Gazastreifens zu Ägypten zurückerobern, sagt Netanjahu. Die Rückeroberung der Grenze käme einer Umkehrung des israelischen Rückzugs aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 gleich, wodurch dieser wieder unter die ausschließliche Kontrolle Israels geriete.
Rücksicht auf Verbündete in Washington
Das wäre das Aus für die Aussichten auf einen palästinensischen Staat in der Westbank und im Gazastreifen. Es würde Bidens Forderung nach einer Zwei-Staaten-Lösung verunmöglichen. Zudem mehren sich in Netanjahus Koalition Stimmen, die eine Rückkehr der Siedler in den Gazastreifen fordern, was Bidens Vorstellungen von einer diplomatischen Lösung des Nahostkonflikts ebenfalls diametral zuwiderläuft.
Netanjahu muss einerseits die Interessen seines Verbündeten in Washington berücksichtigen, der an einem möglichst raschen Ende des Kriegs interessiert ist. Anderseits ist Netanjahus innenpolitischer Handlungsspielraum begrenzt, weil in seiner Koalition Hardliner auf eine Ausdehnung des Kriegs drängen.
Bibi steuert mit seiner Allianz deshalb auf eine Konfrontation mit den USA zu. Biden unterstützt Israel zwar im Krieg gegen die Hamas. Aber Washington hat Israel angesichts der steigenden Zahl von Todesopfern und des internationalen Drucks auf einen Waffenstillstand dazu gedrängt, die intensiven Kämpfe in der palästinensischen Enklave zu reduzieren. Netanjahu will dieser Aufforderung nicht nachkommen. Dem internationalen Druck, den Krieg zu beenden, bevor dessen Ziele erreicht seien, werde er sich widersetzen, sagte er an seiner Pressekonferenz am Samstagabend. Der Krieg werde noch „viele Monate“dauern.
Doch öffentliche Auseinandersetzungen mit den Vereinigten Staaten sind das Letzte, was Israel jetzt braucht, meint Shalom Lipner, der während 25 Jahren israelische Regierungen beraten hat. Um zu vermeiden, dass Israel auf das US-Militärararsenal oder das US-Veto im UN-Sicherheitsratverzichten müsste, wäre es nötig, Bidens freundliche Warnungen zu berücksichtigen, so Lipner.
Statt sich vorwiegend um strategische Probleme zu kümmern, widmet sich Netanjahu mitten im Krieg innenpolitischen – manche würden sagen nebensächlichen – Fragen. So hat er einen Ausschuss ins Leben gerufen, der einen Namen für den laufenden Krieg im Gazastreifen vorschlagen soll. Medienberichten zufolge bevorzugt Netanjahu „Milhemet Bereshit“– Genesis-Krieg: Ein Neuanfang nach der Katastrophe vom 7. Oktober. Offen bleibt dabei allerdings nicht nur die Frage, wie der Neuanfang aussehen wird. Sondern auch, wer ihn orchestrieren wird: Netanjahu oder einer seiner Herausforderer, zum Beispiel Benny Gantz oder der ehemalige Mossad-Chef Yossi Cohen.
Netanjahu ist ein Gefangener seiner radikalen und messianischen Koalitionspartner.