Schwarzer Lavendel
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„Sehr gerne“, sagte Leon.
„Ach, was ich Sie fragen wollte“, sagte der Notar. „Ich habe heute Morgen gehört, es hätte eine Festnahme im Zusammenhang mit der Toten vom Weinberg gegeben? Einen Arzt? Ist das wahr?“
Leon wusste sofort, dass der Notar nur darauf gewartet hatte, ihm diese Frage stellen zu können.
„Sie wissen, dass ich nicht über eine laufende Untersuchung sprechen darf.“
„Ich verstehe, Docteur.“Der Notar hob den rechten Zeigefinger und lächelte. „Sie streiten es aber auch nicht ab. Ich habe gehört, es handle sich um Doktor Ravier?“
Leon wunderte sich nicht, dass sich die Sache bereits herumgesprochen hatte. In Le Lavandou blieb nichts geheim. Jeder kannte jeden, und in jeder Familie gab es mindestens einen, der bei der Feuerwehr, der Polizei oder irgendwo in der Verwaltung arbeitete. Jede Information fand ihren Weg nach draußen. Und gegen Mittag, wenn man sich beim Bäcker über den Weg gelaufen war oder in einem der zahllosen Bistros seinen Café crème genommen hatte, hätte sich die Sache endgültig rumgesprochen.
„Ich glaube, bei Ihrem Informationsstand kann ich leider nicht mithalten“, sagte Leon freundlich.
„Das wird sich ändern, Docteur“, sagte der Notar, „wenn Sie erst einmal länger hier leben. Wir sehen uns morgen. Und vergessen Sie die Karte nicht, ich bin sehr neugierig.“
„Bonne journée“, verabschiedete sich Leon.
Der Notar wandte sich wieder dem Pfarrer zu, um ein Gemeindeproblem zu besprechen. Leon wollte zu seinem Wagen gehen, den er auf dem großen Parkplatz oberhalb des Ortes abgestellt hatte, als ihn eine blonde Frau aufhielt.
„Sie sind doch der Docteur aus Deutschland“, sagte die Endvierzigerin in einem Ton, der Leon an eine Quietschente erinnerte. „Der Médecin légiste.“
„Ja, Madame, Leon Ritter.“„Wie aufregend, ich bin Madame Leclair“, quietschte die Dame. „Noch letzte Woche hab ich mich mit meinen Bridge-Damen über Sie unterhalten.“
„Oh, ich hoffe, es hat sich niemand über mich beschwert.“
Leon lächelte freundlich.
„Oh nein, ganz im Gegenteil. Sie haben ja so einen spannenden Beruf“, sagte die Frau und kicherte verschwörerisch. „Sie müssen einfach mal in unserer kleinen Runde vorbeischauen und über Ihre Arbeit sprechen.“
„Ich weiß nicht …“, meinte Leon. Warum war er nicht Proktologe? Kein Damenkränzchen würde ihn zum Kaffee einladen, damit er über Hämorrhoiden referierte. „Im Moment ist leider sehr viel zu tun.“
„Ich weiß, ich weiß“, sagte die Blondine, „die tote Frau vom Weinberg. Mon Dieu, ist das eine schreckliche Geschichte.“
In diesem Moment klingelte Leons Handy, und er hatte einen Vorwand, sich zurückzuziehen. Es war Isabelle. Zerna bat darum, dass er an der heutigen Besprechung teilnahm.
60. Kapitel
„Schön, dass Sie es doch noch möglich machen konnten, bei uns vorbeizusehen.“Der ätzende Ton in Kommissarin Lapierres Stimme war nicht zu überhören.
„Ein so wichtiges Meeting würde ich mir niemals entgehen lassen“, antwortete Leon ausgesucht höflich und sah, dass Isabelle und Moma sich anstießen und grinsten.
Leon war nach der Kirche noch in die Rechtsmedizin gefahren, um sich zusammen mit Rybaud die Untersuchungsergebnisse der letzten Proben anzusehen. Inzwischen hatte die Besprechung in der Gendarmerie von Le Lavandou ohne ihn begonnen.
Ein Umstand, der Leon nicht im Geringsten beunruhigte.
Schließlich arbeitete er nicht für die Polizei, sondern für die Staatsanwaltschaft. Es war ganz nützlich, die Kommissarin daran zu erinnern.
„Docteur“, begann die Kommissarin, „der Gendarmerie liegt eine Anzeige gegen Bernard Ravier wegen Vergewaltigung vor.
Die Kriminalpolizei in Toulon hat bereits diesbezügliche Ermittlungen aufgenommen. Wir versuchen, hier festzustellen, ob es möglicherweise eine Verbindung zum Tod von Nicole Savary gibt.“
„Und ob es die gibt“, ging Zerna dazwischen und erntete einen pikierten Blick der Kommissarin. „Ich bitte Sie, die Savary war doch auch Patientin von Ravier, genauso wie Susan Winter, und jetzt hat er sich über ihre Schwester hergemacht.“
„Noch wissen wir nicht, was mit Susan Winter geschehen ist. Oder gibt es da vielleicht wieder Informationen, über die ich noch nicht unterrichtet wurde?“, fragte Kommissarin Lapierre.
Das war eine Spitze gegen die gesamte Einheit der Gendarmerie nationale, die noch immer keinen Hinweis auf die verschwundene Deutsche gefunden hatte. Allen Anwesenden war klar, dass Lapierre den Fall am liebsten ganz nach Toulon geholt und ausschließlich mit ihren Leuten bearbeitet hätte. Aber ihr Chef hielt sie kurz. Und wenn sie nicht bessere Indizien vorlegte, würde er kaum weitere Beamte auf diesen Fall ansetzen. Außerdem wusste Madame Lapierre genau, dass Zerna und seine Mannschaft über die besseren Kontakte verfügten, wenn es darum ging, die Leute aus der Gegend zu befragen.
Und dann hatte Le Lavandou ja auch ihn, den Médecin légiste, zur Unterstützung.
Leon wusste natürlich, dass er einen guten Ruf genoss. Erst kürzlich hatte ihm der Oberstaatsanwalt von Toulon vorgeschlagen, seinen Vertrag in der Klinik SaintSulpice auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Aber Leon wusste auch, dass es genau diese Erfolge waren, die Neider schaffen. Und Kommissarin Lapierre war eine von ihnen.
„Gibt es neue Erkenntnisse aus der Gerichtsmedizin zu diesem Fall?“, fragte die Kommissarin.
„Ja, die gibt es, Madame le Commissaire. „Guten Morgen, meine Damen und Herren“, begrüßte Leon förmlich die Versammlung.
(Fortsetzung folgt)