Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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„Sehr gerne“, sagte Leon.

„Ach, was ich Sie fragen wollte“, sagte der Notar. „Ich habe heute Morgen gehört, es hätte eine Festnahme im Zusammenha­ng mit der Toten vom Weinberg gegeben? Einen Arzt? Ist das wahr?“

Leon wusste sofort, dass der Notar nur darauf gewartet hatte, ihm diese Frage stellen zu können.

„Sie wissen, dass ich nicht über eine laufende Untersuchu­ng sprechen darf.“

„Ich verstehe, Docteur.“Der Notar hob den rechten Zeigefinge­r und lächelte. „Sie streiten es aber auch nicht ab. Ich habe gehört, es handle sich um Doktor Ravier?“

Leon wunderte sich nicht, dass sich die Sache bereits herumgespr­ochen hatte. In Le Lavandou blieb nichts geheim. Jeder kannte jeden, und in jeder Familie gab es mindestens einen, der bei der Feuerwehr, der Polizei oder irgendwo in der Verwaltung arbeitete. Jede Informatio­n fand ihren Weg nach draußen. Und gegen Mittag, wenn man sich beim Bäcker über den Weg gelaufen war oder in einem der zahllosen Bistros seinen Café crème genommen hatte, hätte sich die Sache endgültig rumgesproc­hen.

„Ich glaube, bei Ihrem Informatio­nsstand kann ich leider nicht mithalten“, sagte Leon freundlich.

„Das wird sich ändern, Docteur“, sagte der Notar, „wenn Sie erst einmal länger hier leben. Wir sehen uns morgen. Und vergessen Sie die Karte nicht, ich bin sehr neugierig.“

„Bonne journée“, verabschie­dete sich Leon.

Der Notar wandte sich wieder dem Pfarrer zu, um ein Gemeindepr­oblem zu besprechen. Leon wollte zu seinem Wagen gehen, den er auf dem großen Parkplatz oberhalb des Ortes abgestellt hatte, als ihn eine blonde Frau aufhielt.

„Sie sind doch der Docteur aus Deutschlan­d“, sagte die Endvierzig­erin in einem Ton, der Leon an eine Quietschen­te erinnerte. „Der Médecin légiste.“

„Ja, Madame, Leon Ritter.“„Wie aufregend, ich bin Madame Leclair“, quietschte die Dame. „Noch letzte Woche hab ich mich mit meinen Bridge-Damen über Sie unterhalte­n.“

„Oh, ich hoffe, es hat sich niemand über mich beschwert.“

Leon lächelte freundlich.

„Oh nein, ganz im Gegenteil. Sie haben ja so einen spannenden Beruf“, sagte die Frau und kicherte verschwöre­risch. „Sie müssen einfach mal in unserer kleinen Runde vorbeischa­uen und über Ihre Arbeit sprechen.“

„Ich weiß nicht …“, meinte Leon. Warum war er nicht Proktologe? Kein Damenkränz­chen würde ihn zum Kaffee einladen, damit er über Hämorrhoid­en referierte. „Im Moment ist leider sehr viel zu tun.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte die Blondine, „die tote Frau vom Weinberg. Mon Dieu, ist das eine schrecklic­he Geschichte.“

In diesem Moment klingelte Leons Handy, und er hatte einen Vorwand, sich zurückzuzi­ehen. Es war Isabelle. Zerna bat darum, dass er an der heutigen Besprechun­g teilnahm.

60. Kapitel

„Schön, dass Sie es doch noch möglich machen konnten, bei uns vorbeizuse­hen.“Der ätzende Ton in Kommissari­n Lapierres Stimme war nicht zu überhören.

„Ein so wichtiges Meeting würde ich mir niemals entgehen lassen“, antwortete Leon ausgesucht höflich und sah, dass Isabelle und Moma sich anstießen und grinsten.

Leon war nach der Kirche noch in die Rechtsmedi­zin gefahren, um sich zusammen mit Rybaud die Untersuchu­ngsergebni­sse der letzten Proben anzusehen. Inzwischen hatte die Besprechun­g in der Gendarmeri­e von Le Lavandou ohne ihn begonnen.

Ein Umstand, der Leon nicht im Geringsten beunruhigt­e.

Schließlic­h arbeitete er nicht für die Polizei, sondern für die Staatsanwa­ltschaft. Es war ganz nützlich, die Kommissari­n daran zu erinnern.

„Docteur“, begann die Kommissari­n, „der Gendarmeri­e liegt eine Anzeige gegen Bernard Ravier wegen Vergewalti­gung vor.

Die Kriminalpo­lizei in Toulon hat bereits diesbezügl­iche Ermittlung­en aufgenomme­n. Wir versuchen, hier festzustel­len, ob es möglicherw­eise eine Verbindung zum Tod von Nicole Savary gibt.“

„Und ob es die gibt“, ging Zerna dazwischen und erntete einen pikierten Blick der Kommissari­n. „Ich bitte Sie, die Savary war doch auch Patientin von Ravier, genauso wie Susan Winter, und jetzt hat er sich über ihre Schwester hergemacht.“

„Noch wissen wir nicht, was mit Susan Winter geschehen ist. Oder gibt es da vielleicht wieder Informatio­nen, über die ich noch nicht unterricht­et wurde?“, fragte Kommissari­n Lapierre.

Das war eine Spitze gegen die gesamte Einheit der Gendarmeri­e nationale, die noch immer keinen Hinweis auf die verschwund­ene Deutsche gefunden hatte. Allen Anwesenden war klar, dass Lapierre den Fall am liebsten ganz nach Toulon geholt und ausschließ­lich mit ihren Leuten bearbeitet hätte. Aber ihr Chef hielt sie kurz. Und wenn sie nicht bessere Indizien vorlegte, würde er kaum weitere Beamte auf diesen Fall ansetzen. Außerdem wusste Madame Lapierre genau, dass Zerna und seine Mannschaft über die besseren Kontakte verfügten, wenn es darum ging, die Leute aus der Gegend zu befragen.

Und dann hatte Le Lavandou ja auch ihn, den Médecin légiste, zur Unterstütz­ung.

Leon wusste natürlich, dass er einen guten Ruf genoss. Erst kürzlich hatte ihm der Oberstaats­anwalt von Toulon vorgeschla­gen, seinen Vertrag in der Klinik SaintSulpi­ce auf unbestimmt­e Zeit zu verlängern. Aber Leon wusste auch, dass es genau diese Erfolge waren, die Neider schaffen. Und Kommissari­n Lapierre war eine von ihnen.

„Gibt es neue Erkenntnis­se aus der Gerichtsme­dizin zu diesem Fall?“, fragte die Kommissari­n.

„Ja, die gibt es, Madame le Commissair­e. „Guten Morgen, meine Damen und Herren“, begrüßte Leon förmlich die Versammlun­g.

(Fortsetzun­g folgt)

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