Wie der Mann tickt, der Israel zerstören will
Hamas-Chef Yahya Sinwar sieht sich selbst als Kämpfer gegen westliche Ideologien. Doch was steckt wirklich hinter seinem Nimbus eines palästinensischen Nationalhelden?
Auf Israels „Wanted“-Liste steht er zuoberst: Yahya Sinwar, Chef der Hamas im Gazastreifen. Seine Tage seien gezählt, sagt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu über den Erz-Terroristen, nach dem Tausende von israelischen Truppen Ausschau halten, unterstützt von Drohnen, elektronischen Abhörgeräten und Informationen von Kollaborateuren.
Der 61-Jährige mit dem schneeweißen Haar und den tiefschwarzen Augenbrauen ist der Architekt des Massakers vom 7. Oktober, bei dem 1.200 Menschen ermordet, Frauen vergewaltigt und 240 Geiseln aus dem Süden Israels in den Gazastreifen verschleppt wurden. Anderthalb Monate später sind die meisten der Gekidnappten immer noch in Gefangenschaft der Hamas.
„Die Mission seines Lebens“
Während rund zehn Jahren habe Yahya Sinwar an seinem Plan gearbeitet, Israel anzugreifen, sagt der Tel Aviver Anti-Terror-Experte Kobi Michael. Es sei „die Mission seines Lebens“. Sinwars übergeordnetes Ziel: „So viele Israelis wie möglich zu ermorden“. Der brutale Angriff vom 7. Oktober sei ein erster Schritt gewesen, um Israel zu zerstören, meint ebenfalls Michael Milstein, der das Forum für Palästinenserstudien am Moshe-Dayan-Zentrum für Nahost- und Afrikastudien der Universität Tel Aviv leitet und bis 2018 beim militärischen Geheimdienst der Armee für das Dossier „Palästinenser“zuständig war. Für Sinwar sei der Kampf gegen Israel auch ein heroischer Konflikt zwischen dem Islam und dem Rest der Welt, sagt Milstein. Westliche Moralvorstellungen seien ihm ein Greuel. Statt die Hilfsgelder, die er aus dem Westen zum Aufbau des Gazastreifens erhielt, zum Wohl der Bevölkerung zu investieren, schaffte er sich damit Raketen an und baute Tunnelanlagen für sich und seine Terrortruppen.
Sinwar wuchs im Flüchtlingslager Khan Yunis im Süden des Gazastreifens auf. Zu dieser Zeit war Khan Yunis eine Hochburg der Muslimbruderschaft, sagt Ehud Yaari, Arabienspezialist beim israelischen TV-Kanal Channel 2, der Sinwar mehrmals interviewt hat. Die islamistische Gruppe war laut Yaari „eine massive Bewegung für junge Leute, die in der Armut des Flüchtlingslagers Halt in den Moscheen suchten“. Sinwar war ein fleißiger Schüler, schrieb sich an der Islamischen Universität Gaza im Fach „Arabisch“ein und schloss sein Studium mit einem Diplom ab.
Bereits in jungen Jahren spielte Sinwar eine zentrale Rolle in der islamischen Gruppe. Er half nicht nur beim Aufbau ihres militärischen Flügels, sondern wurde auch mit der Leitung des internen Sicherheitsapparats, der sogenannten Majd (Ruhm) Force, betraut, deren Aufgabe es war, Kollaborateure zu eliminieren. Er ging dabei so brutal vor, dass er den Spitznamen „der Schlächter von Khan Younis“erhielt, den einige Palästinenser bis heute für ihn verwenden. Konkurrenten räumte er aus dem Weg, indem er sie zum Beispiel zwang, ein Grab auszuheben, wo er sie dann lebendig begrub und mit Zement überschüttete.
Zu dieser Zeit geschah etwas, das bis heute nachwirkt. Sinwar gewann das Vertrauen des Hamas-Gründers, Scheich Ahmed Jassin, was ihm später den Weg an die Spitze der Terror-Organisation ebnen sollte.
Einen großen Teil seines Erwachsenenlebens hat Sinwar in israelischen Gefängnissen verbracht. Wegen „islamischer Aktivitäten“wurde er im Alter von 19 Jahren ein erstes Mal von Israel, das zu jener Zeit den Gazastreifen kontrollierte, ins Gefängnis gesteckt. Wenige Jahre nach seiner Freilassung kam er erneut ins Zuchthaus, unter anderem weil er die Ermordung von vier palästinensischen Kollaborateuren veranlasst und IDF-Soldaten getötet hatte. Die Richter waren hart: Sie gaben ihm viermal lebenslänglich.
Der skrupellose Machtpolitiker
Die Jahre im Zuchthaus waren für Sinwar wie ein College. „Er verpasste keine Sekunde, um sich weiterzubilden,“sagt Betty Lahat, die der Geheimdienstabteilung des israelischen Strafvollzugs vorstand, als Sinwar im Gefängnis war. Er lernte Hebräisch, und er bestand darauf, täglich die Tageszeitung „Haaretz“in die Zelle geliefert zu bekommen. „Fühlte er sich um seine Rechte als Gefangener betrogen, klagte er beim Obersten Gerichtshof“, erinnert sich Lahat – „und er bekam meistens recht“.
Der angehende Hamas-Führer studierte in seiner Zelle die israelische Gesellschaft. Er wollte sich ein Bild vom Feind machen, Trends erkennen, Risse in der Gesellschaft orten und israelische Politiker analysieren – alles mit dem Ziel, die Zerstörung Israels vorzubereiten. Er begriff, dass im Westen Angriffe auf zivile Ziele wie Schulen, Krankenhäuser oder Moscheen tabu seien. Deshalb fasste er einen teuflischen Beschluss. Die Hamas würde ihre Terror-Infrastruktur gerade dort bauen, wo sie vor Attacken sicher sein würde, also in nicht-militärischen Anlagen. Das Töten von Zivilisten halte er nicht für verwerflich, wenn damit die höheren Ziele des Islam verfolgt werden, sagt Lahat: „Das hat ihm seine Mutter eingetrichtert“.
Sinwar glaubte verstanden zu haben, wie empfindlich die Bevölkerung auf Opfer reagiere, vor allem wenn es sich um Frauen und Kinder handelt, sagt Milstein vom Palestinian Studies Forum. Sinwar sei sich sicher gewesen, dass der Angriff vom 7. Oktober eine brutale militärische Reaktion Israels auslösen werde.
Doch auch der Tod von zehn Tausenden oder mehr Palästinenser und die Evakuierung von Millionen Bewohnern seien in der Weltanschauung des Hamas-Führers in Kauf zu nehmen, sagt Milstein: „Der hohe Preis ist für Sinwar vernünftig“. Er würde auch den Tod von Verwandten nicht bedauern, wenn damit der Sieg der islamischen Ideologie erreicht werden könnte. Er
selber aber hat sich jetzt in seinen Tunnelanlagen verschanzt, um vor israelischen Angriffen sicher zu sein, denen die Palästinenser in Gaza schutzlos ausgeliefert sind. In der blutigen Arithmetik der Hamas-Führer ist das Gemetzel nicht das bedauerliche Ergebnis einer großen Fehlkalkulation. Ganz im Gegenteil, sagen sie: Es sei der „notwendige Preis“für eine große Errungenschaft – die Eröffnung eines neuen Kapitels in ihrem Kampf gegen Israel, zitiert die „New York Times“Khalil al-Hayya, Mitglied des obersten Führungsgremiums der Hamas in Katar.
Sinwars Fehlkalkulation
In einem wesentlichen Punkt habe sich Sinwar allerdings getäuscht, sagt Milstein. Er habe geglaubt, dass Israel „so schwach wie ein Spinnennetz“sei, weshalb das Ende des „zionistischen Projekts“in Greifweite sei. Doch, so Milstein, Sinwar habe die Widerstandskraft der Israelis unterschätzt, ebenso die Solidarität der Bürger, wenn die Nation von außen angegriffen wird.
Betty Lahat charakterisiert den radikalislamischen Häftling als „äußerst intelligent“, ehrgeizig und machtbesessen. „Er arbeitete unermüdlich daran, als Anführer der noch jungen Hamas nicht nur im Gefängnis respektiert zu werden, sondern auch außerhalb der Zuchthausmauern“. Gleichzeitig habe sie ihn als „Feigling erlebt, aber auch als grausamen und gefühllosen Mann.“Zudem sei er paranoid. Er habe stets befürchtet, seine Macht über die entstehende Hamas zu verlieren und schaltete Konkurrenten aus, indem er sie ermorden ließ – auch im Gefängnis.
Sinwar, derzeit einer der blutrünstigsten Terroristen, ist ein Angsthase, wenn sein Leben auf dem Spiel steht. Dass er feige ist, ließ sich bereits im Gefängnis erkennen. Als er zum Beispiel erfuhr, dass bei ihm ein aggressiver Gehirntumor entdeckt worden sei, brach er völlig zusammen, erinnert sich Lahat. Auf Kosten des israelischen Steuerzahlers wurde Sinwar, der 15 Jahre später für das schlimmste Gemetzel an Juden verantwortlich sein sollte, operiert.
Nimbus eines Nationalhelden
Nach dem Eingriff, der erfolgreich verlief, versuchte Sinwar zunächst äußerlich hart zu wirken. Doch dann begann er wie ein Baby zu schluchzen, bis ihm Ärzte versicherten, dass er überleben werde, erinnert sich Lahat. Ironie des Schicksals: Ein Verwandter von Yuval Biton, der Sinwar im Gefängnis medizinisch betreute, sollte später Opfer Sinwars werden. Bitons Neffe, Tamir Adar, wird seit dem 7. Oktober von der Hamas in Gaza als Geisel festgehalten. Das sei Sinwars seltsame Art von Dankbarkeit, meint der ehemalige Gefängnisarzt.
Trotz seiner lebenslänglichen Zuchthausstrafen kam Sinwar im Jahr 2011 frei, im Rahmen eines Gefangenenaustausches. Mehr als 1.200 palästinensische Terroristen wurden aus der Haft entlassen – gegen eine einzige israelische Geisel, den IDF-Soldaten Gilad Shalit. Sinwar war innerhalb des Zuchthauses – und auch gegenüber Israel – so mächtig, dass er bestimmen konnte, wer frei kam – und wer nicht.
Seinen Namen setzte er zuoberst auf die Liste, seine Konkurrenten beim Kampf um die Hamas-Spitze aber, dafür sorgte er mit Erfolg, mussten im Gefängnis bleiben. Sinwars Manipulation hatte schon vorher begonnen. Sein Bruder war an der Entführung Shalits beteiligt gewesen, mit der Absicht, einen Deal auszuhandeln. Eine „Strategie“, auf die Sinwar am 7. Oktober erneut zurückgriff, als er 1.200 Geiseln kidnappte.
Jetzt habe er bei Palästinensern den Nimbus eines Nationalhelden, sagt der Tel Aviver Anti-Terror-Experte Kobi Michael – nicht nur in Gaza, sondern auch im Westjordanland. Und den Gefangenen in israelischen Anstalten verspricht er, dass er sie „bald“befreien werde.