Schwarzer Lavendel
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„Wir haben inzwischen alle Abstriche und Proben ausgewertet, und sie konnten alle der gleichen Person zugeordnet werden, Bernard Ravier. Aber das war ja auch nicht anders zu erwarten gewesen. In einem Punkt muss ich Ihnen allerdings widersprechen, Madame Lapierre. Die Untersuchungen haben ergeben: Anna Winter wurde nicht vergewaltigt.“
Für einen Augenblick sagte niemand etwas. Die Anwesenden sahen sich an, als müssten sie sich vergewissern, sich nicht verhört zu haben.
„Wie bitte?“Zernas Stimme bekam einen vorwurfsvollen Unterton. „Was soll das heißen? Die Frau hat doch Anzeige erstattet?“Er sah Isabelle an. „Sie haben doch selber mit ihr gesprochen, Capitaine Morell?“
„Es waren ausgesprochen traumatische Erlebnisse, die mir das Opfer geschildert hat. Über manche Details konnte oder wollte sie nicht sprechen.“
„Fest steht jedenfalls“, sagte Leon, „Anna Winter wurde von dem vermeintlichen Vergewaltiger verletzt, aber nicht penetriert.“
„Wie? Heißt das, er hat ihn ihr nicht reingesteckt?“Das war Masclau.
„Lieutenant, ich muss doch schon sehr bitten“, Zerna brachte Masclau mit einem Blick zum Schweigen.
„Den Verletzungen nach zu urteilen“, fuhr Leon fort, „hat Ravier versucht, den Geschlechtsverkehr zu erzwingen. Er hat dem Opfer mit der Faust mehrfach ins Gesicht geschlagen, was zu Schürfwunden und Hämatomen geführt hat. Außerdem hat er sein Opfer gegen die Oberschenkel geschlagen und wahrscheinlich auch getreten, als er versuchte, die Frau unter sich zu bringen und ihre Beine auseinanderzudrücken.“
„Fand das im Auto oder außerhalb statt?“, fragte Lapierre.
„Anna Winter hat mir gesagt, der Mann hätte sie aus dem Wagen gestoßen, dabei sei sie auf den Rücken gestürzt, und er habe sich auf sie geworfen“, erklärte Isabelle.
„Das deckt sich mit den Verletzungen, die wir gefunden haben“, sagte Leon. „Das Opfer hatte Abschürfungen am Rücken, die offenbar von Steinen am Boden stammen. Aber noch einmal: Ravier hat zwar versucht, die Frau zum Geschlechtsverkehr zu zwingen, aber es ist ihm nicht gelungen. Wir haben sein Sperma nur auf ihrem Kleid und ihren Oberschenkeln gefunden.“
„Sie wissen, was das bedeutet, Docteur?“Zerna sah Leon scharf an, als könnte er ihn so dazu bringen, seine Aussage zurückzunehmen. „Statt für fünfzehn Jahre ins Gefängnis zu gehen, bekommt der Kerl jetzt möglicherweise nur eine Geldstrafe.“
„Ich bin nicht der Richter“, sagte Leon, „ich analysiere nur Spuren. Und diese Spuren belegen eindeutig, dass der Angreifer sein Opfer nicht vergewaltigt hat, rein technisch gesprochen.
„Wenn auch alles darauf hinweist, dass er es versucht hat. Und noch etwas: Es ist nicht ungewöhnlich, dass Opfer, die solche traumatischen Erfahrungen gemacht haben, die Erinnerungen an die Einzelheiten eines so schlimmen Erlebnisses verdrängen.“
„Ich glaub’s ja nicht“, sagte Masclau enttäuscht. „Jetzt kriegen wir Ravier im besten Fall noch wegen Körperverletzung dran.“
„Na großartig.“Zerna hob beide Hände in die Luft.
„Der arme Ravier. Verleihen wir ihm doch gleich den Ordre de la Santé publique.“
„Bleiben Sie bitte sachlich, Commandant“, mahnte Lapierre.
Ich dachte, wir reden hier über einen Gewaltverbrecher“, sagte Zerna, „der aller Wahrscheinlichkeit nach auch für einen Mord und für das Verschwinden einer jungen Frau verantwortlich ist.“
„Der Serientäter, den wir suchen, würde wohl kaum eine Frau zum Weinfest einladen, um sie anschließend in seinem Porsche zu vergewaltigen“, sagte Leon.
„Ach nein? Wieso können Sie da so sicher sein?“, meldete sich Masclau. „Sie haben doch gesagt, dass wir nach einem Täter suchen müssen, der unauffällig lebt, der vielleicht sogar Familie hat und der sich mit Anatomie auskennt? Und so, wie ich das sehe, trifft das alles hundertprozentig auf Ravier zu.“
„Genau so, wie es auf Guy Pelletier zutrifft“, sagte Isabelle.
„Den mussten wir ja wieder laufen lassen“, entgegnete Masclau. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würden alle Verdächtigen bis zum Prozess hinter Schloss und Regel sitzen.
„Der Serientäter, den wir suchen, geht planvoll und zielgerichtet vor“, sagte Leon. „Er lauert seinen Opfern auf, er tötet sie, und er konserviert sie nach einem ganz bestimmten Ritual. Anschließend versteckt er seine Opfer an einem Ort, wo er sie regelmäßig besuchen kann. Möglicherweise über Jahre.“
„Das ist bisher aber nur Ihre Theorie“, meinte Lapierre.
„Für die wir bei unseren rechtsmedizinischen Untersuchungen der beiden Toten starke Anhaltspunkte gefunden haben.“
„Aber die schließen doch Ravier als Täter nicht aus?“, versuchte sich Masclau bei Zerna anzubiedern.
Ravier ist meiner Ansicht nach nicht planvoll vorgegangen“, sagte Isabelle. „Er hat sich eher wie jemand benommen, bei dem die Sicherung durchgebrannt ist. Jemand, der zu viel Wein getrunken hat und eine Frau im Auto mitnimmt. Unterwegs macht er sie an. Sie will nicht, und er wird brutal.“„Ich bitte dich“, das war wieder Masclau. „Erst stellt dieser Arzt Susan Winter nach, und unmittelbar nach seiner letzten SMS verschwindet die Frau auf unerklärliche Weise. Und jetzt geht er auf die Schwester los. Wenn das nicht zielgerichtet ist.“
„Aber das ist auch schon alles, was wir haben, oder?“, fragte Lapierre kühl.
„Wir suchen inzwischen auch über die Grenzen der Commune hinaus nach der Vermissten.“
„Na gut“, sagte die Kommissarin, „tun Sie das. Darüber hinaus können Sie Doktor Ravier freilassen, natürlich nur vorläufig.“
Wie bitte?“Masclau war empört.
Aber Madame“, rief auch Zerna erbost.
Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlage GmbH, ISBN 9783-86493-216-8