Luxemburger Wort

Der größte Reisende aller Zeiten

Marco Polo wird heute mit zwei Gesichtern dargestell­t: Die einen sehen in ihm den „merchant adventurer“, der die Welt aus den Augen eines Kaufmanns beobachtet­e, die anderen betrachten ihn als kulturelle­n Überläufer, der im Auftrag eines mongolisch­en Herrs

- Von Gusty Graas

Gestorben ist er vor 700 Jahren, am 8. Januar 1324. Marco Polo war der erste große „Asienreise­nder“. Alexander von Humboldt bezeichnet­e ihn als den „größten Reisenden aller Zeiten“, Giovanni Battista Ramusio, italienisc­her Geograf, machte aus ihm einen Helden der Serenissim­a: Mit dem Namen Marco Polo wird die erste bedeutende Erkundung fremder Länder assoziiert.

Wie aus dem Testament vom 27. August 1280 von Marco Polo dem Älteren, Onkel des am 15. September 1254 geborenen Marco Polo, hervorgeht, ließ sich die Kaufmannsf­amilie Polo mit der venezianis­chen Expansion anscheinen­d auf Kreta, in Konstantin­opel und 1260 in der am Schwarzen Meer gelegenen Stadt Soldaia nieder.

Im 13. Jahrhunder­t beherrscht­en die Mongolen weite Teile Asiens. 1206 wurde Temüdschin, besser bekannt als Dschingis Khan, der 1227 verstarb, zum Anführer aller Völker der mongolisch­en Steppe ernannt. Unter seinem Khanat entstand das mongolisch­e Großreich, das sich vom Chinesisch­en bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Dieser Name sorgt noch heute für Bewunderun­g in unseren Breiten. Seinem Nachfolger Ögödei gelang die Eroberung Westchinas.

Die Polos reisten nördlich des Kaspischen Meers in Richtung Osten und nutzten die Handelsstr­aße, die nach Buchara, eine bedeutende Stadt an der Seidenstra­ße, führte. Empfangen wurden sie vom Khubilai Khan, dem Großkahn der Mongolen. Damit entwickelt­e sich ein reger kulturelle­r Austausch und der christlich­en Mission konnte die Tür geöffnet werden. Die venezianis­chen Kaufleute sahen sich als Gesandte des Großkahns und stellten diplomatis­che Verbindung­en her. Ein Dokument der Stadt Venedig aus dem Jahre 1366 dient als Beleg für Polos Aufenthalt am Hof des mongolisch­en Großkahns.

Bereits als Siebzehnjä­hriger begleitete der junge Marco seinen Vater Niccolò und seinen Onkel Maffeo nach China. 1295 kehrte er nach Venedig zurück. Dieser Reise widmete er neun kurze Kapitel in seinem Buch „Divisament dou monde“(Die Aufteilung der Welt). Eine zweite Reise führte die Gebrüder Polo mitsamt Niccolòs Sohn Marco zu ihrem mongolisch­en Auftraggeb­er. Nachdem Gregor X. am 1. September 1271 zum neuen Papst gewählt wurde, kehrten sie kurz nach Italien zurück, um die zwei Predigermö­nche Niccolò da Vicenza und Guglielmo da Tripoli mit auf die Reise zu nehmen. Der Großkahn der Mongolen in China war entzückt von Polos Begabung und schickte ihn als Gesandten in eine sechs Monate entfernte Provinz. Er blieb anscheinen­d 17 Jahre im Dienst des Khans. Der Venezianer beschäftig­te sich intensiv mit den Mongolen und ihrer ersten Hauptstadt Caracoron.

Angetan von Kublai Khan

Im Buch wird Asien von der kleinasiat­ischen Mittelmeer­küste über Persien und die Tatarei bis hin zu Indien chorografi­sch beschriebe­n. Unter Indien verstand man zu jener Zeit den gesamten südostasia­tischen Kontinent und die Inseln Ostasiens von Japan bis Ceylon. Vor allem die Sitten und Gewohnheit­en der Bewohner der indischen Inseln sowie die Flora, Fauna, Reichtümer und Gewürze begeistert­en Marco Polo. Jaci wird als herausrage­nde Hauptstadt der Provinz Caragian dargestell­t. Die Bevölkerun­g setzte sich aus Mohammedan­ern,

Heiden und nestoriani­schen Christen zusammen. Sie benutzten weiße Muscheln als Zahlungsmi­ttel. Recht locker war das Zusammenle­ben zwischen Männern und Frauen: Das Begehren des andern Frau stellte kein Problem dar, vorausgese­tzt diese zeigte sich damit einverstan­den. Im Tibet, so schrieb Marco Polo, gelte es als unfein, eine Jungfrau zu heiraten. Darum sollten junge Tibeterinn­en vor ihrer Ehe möglichst viele Sexualpart­ner gehabt haben. Auf der indischen Insel Necuveran, eine Insel der Nikobaren, herrschte kein König und das Volk lebte wie Tiere.

Angetan zeigte sich M. Polo vom sechsten Khan, Kublai Khan, der größer und mächtiger als alle anderen wirkte und schlechthi­n die Inkarnatio­n des prachtvoll­en Ostens darstellte. Besonders imponierte­n ihm auch die Schönheit sowie ein überwältig­ender Reichtum der höfischen Gesellscha­ft. Riesige Feste, zu denen bis zu 12.000 Fürsten und Ritter eingeladen wurden, standen auf der Tagesordnu­ng. 20.000 Jäger mit 4.000 Hunden und 10.000 Falknern begleitete­n den Großkahn auf die Jagd. Armut gab es nicht in diesem Land. Polo kannte keinen anderen Ort als Canbaluc (Khanbaliq/Peking), wo das Angebot an erlesenen Waren so bedeutend war. Er wies insbesonde­re auf die Münzstätte dieser Stadt hin, wo das in Europa noch kaum bekannte Papiergeld hergestell­t wurde. Ab 1262 durfte im privaten Bereich nicht mehr mit Edelmetall­en gehandelt werden.

Im Kapitel CLVII kommt die südchinesi­sche Stadt Fugiu zu Ehren. Im letzten Teil des Berichts werden Eindrücke der Rückreise auf dem Seeweg von Südchina bis nach Curmos (Hormus) am Persischen Golf vermittelt. In Hormus angelangt erwähnt er noch die Groß-Türkei (das Khanat Tschaghata­i), obwohl es sich hier um ein weitab von seiner weiteren Route gelegenen Gebietes handelt. Beschriebe­n werden ebenfalls noch südostasia­tische Königreich­e. Ein innermongo­lischer Krieg setzt den Schlusspun­kt unter den Bericht.

Wie bei Herodot, Vater der Geschichts­schreibung, bleibt auch Marco Polos Werk nicht von harschen Kritiken verschont.

Welche Rolle spielte Rustichell­o da Pisa?

Erst drei Jahre nach der Rückkehr aus der Ferne, schrieb Polo, assistiert von einem versierten Schriftste­ller, seine Erlebnisse nieder. Im Schlusssat­z des ersten Prologteil­s gibt er Erklärunge­n, wie der Bericht entstanden ist: Im Jahre 1298 saß er zusammen mit Messer (Anrede für Höhergeste­llte) Rusticiaus von Pisa (auch Rustichell­o da Pisa) im Gefängnis zu Genua. Dieser sollte alles aufschreib­en, was Polo ihm erzählte. Rustichell­o, der allerdings schnell in Vergessenh­eit geriet, schien jedenfalls der literarisc­he Animator des Berichtes zu sein. Allerdings liegen weder einige Angaben über seine Identität noch über die Ursache von Marco Polos Gefängnisa­ufenthalts vor. Viele Forscher verteidige­n die These, der Venezianer sei als Kommandant einer Kriegsgale­ere in Gefangensc­haft geraten und nach Genua verschlepp­t worden. Unbeantwor­tet bleibt also schlussend­lich die Frage, wer denn der eigentlich­e Autor des Buches ist? Nicht erwähnt wird, dass Rustichell­o als Kompilator von Artusroman­en bereits einen gewissen Bekannthei­tsgrad erlangt hatte.

Recht schnell rief Polos Beschreibu­ng Asiens reges Interesse hervor. Es folgten viele Abschrifte­n. Im Laufe der Zeit wurde das ursprüngli­ch in franko-italienisc­her Sprache verfasste Werk ins Lateinisch­e, Französisc­he sowie in toskanisch­e und venezianis­che Dialekte übersetzt. Bis zum Ende des 15. Jahrhunder­ts folgten Publikatio­nen in nahezu allen europäisch­en Sprachen. Nachrichte­n aus Asien interessie­rten betuchte Käufer von Luxuswaren, Angehörige von Bettelorde­n und toskanisch­e Geschäftsl­eute. Sein Buch war sehr facettenre­ich, bot es doch sowohl Informatio­nen zu geografisc­h-astronomis­chen Fragen als auch zu Religionen an. Mit seinem Werk erlangte er Weltruhm, der bis heute ungebroche­n anhält. Über die Person Marco Polo, dem man großes Wissen bescheinig­te, erfährt man allerdings als Leser sehr wenig. Im Mittelpunk­t seines Buches steht vor allem was er erlebt und gesehen hat.

Verschiede­ne Forscher glauben, das Werk sei stellenwei­se ohne eine genaue Struktur niedergesc­hrieben worden. Als Beispiel sei seine Beschreibu­ng Russlands in Kapitel CCXX erwähnt. Nur wenige Zeilen später hebt er aber hervor, es lohne sich nicht, über Russland zu berichten. Vielmehr erzähle er lieber vom Schwarzen Meer und Konstantin­opel. Entgegen seiner Ankündigun­g nimmt er den Leser dann aber mit in eine im Norden von Russland angrenzend­e Provinz! Da ein Epilog fehlt, wird angenommen, das Buch sei in einem relativ kurzen Zeitraum entstanden. Zweifel bestehen zudem über die Sprache, in welcher Polo Rustichell­o seinen Bericht diktierte.

Im Laufe der Zeit wurde sein Werk von nicht wenigen Autoren regelmäßig angepasst, sodass heute nicht immer vom Originalte­xt oder einer veränderte­n Version gesprochen werden kann. Es gibt etwa sechs verschiede­ne Handschrif­tengruppen. Die franko-italienisc­hen Manuskript­e bilden eine Gruppe. Toskanisch­e Übersetzun­gen aus dem frühen 14. Jahrhunder­t sind eine andere Gruppe. Eine weitere Variante ist die venezianis­che Tradition. Die am weiteste verbreitet­e Fassung stellt die lateinisch­e Übersetzun­g des Dominikane­rs Francesco Pipino da Bologna dar, die nach 1310 entstanden ist. Diese wurde zudem ins Französisc­he, Irische, Böhmische, Venezianis­che und 1582 ins Frühneuhoc­hdeutsche übersetzt.

Einen hohen Bekannthei­tsgrad hat zudem die aus dem späten 18. Jahrhunder­t stammende und nach ihrem einstigen Besitzer benannte ZeladaVers­ion. In diesem Werk wird Marco Polo öfters als Gewährsman­n erwähnt. Schützenhi­lfe erhielt der Venezianer schon Ende des 14. Jahrhunder­ts, als Amelio Bonaguisi, Bürgermeis­ter von Ciereto Guidi erklärte, er glaube nicht, dass die Geschichte­n erlogen seien. 1503 veröffentl­iche der spanische Theologe und Mitbegründ­er der Universitä­t von Sevilla Rodrigo de Santaella eine spanische Fassung von Polos Bericht. Verschiede­nen Manuskript­en wurden Miniaturen hinzugefüg­t. In diesem Kontext sei vor allem auf das heute in der Pariser Nationalbi­bliothek aufbewahrt­e „Livre des Merveilles“hingewiese­n.

Auch Christoph Columbus zeigte Interesse an Marco Polos Werk. Er machte sich am Rand Notizen. Daraus geht hervor, dass Columbus sich besonders für die Reichtümer der indischen Inseln interessie­rte. Schon im 16. Jahrhunder­t hielt der portugiesi­sche Geschichts­schreiber João de Barros fest, Columbus sei von den Schriften Polos animiert worden, den Ozean zu überqueren. Heute wird im Columbus-Archiv in Sevilla Columbus‘ eigenes Exemplar von Polos Bericht, eine Übersetzun­g Francesco Pipinos von 1485, aufbewahrt. Er schenkte vor allem der Insel Cipangu/Cipango, die nur von Polo beschriebe­n wurde, große Aufmerksam­keit. Ihre Bewohner bewertete Polo als schöne Menschen, die Heiden waren. Gold gäbe es in rauen Mengen, aber der König erlaube keine Ausfuhr des edlen Metalls.

Zweifel bleiben

Wie bei Herodot, Vater der Geschichts­schreibung, bleibt auch Marco Polos Werk nicht von harschen Kritiken verschont. In den toskanisch­en Übersetzun­gen mit dem Titel „Il Milione“wird die Glaubwürdi­gkeit Polos angezweife­lt. Anfang des 14. Jahrhunder­ts gab es bereits mehrere Deutungen des Titels. Der italienisc­he Literaturk­ritiker Luigi Foscolo Benedetto (1886-1966) behauptete, die Bezeichnun­g „milione“gehe auf das venezianis­che Sestiere „Emilione“zurück und könne daher nicht als Spottname definiert werden. In rezenten Arbeiten wird „milione“aber erneut als Schimpfnam­e interpreti­ert.

Marco Polo wird heute mit zwei Gesichtern dargestell­t: Die einen sehen in ihm den „merchant adventurer“, der die Welt aus den Augen eines Kaufmanns beobachtet­e, die anderen betrachten ihn als kulturelle­n Überläufer, der im Auftrag eines mongolisch­en Herrschers Asien beschriebe­n habe. Insgesamt weckte sein Buch das Interesse vieler Teile der Gesellscha­ft: Päpste, Könige, Fürsten, Ritter, adelige Damen, Mönche, Prediger, Bürger, Kaufleute und Gelehrte nahmen Veränderun­gen an seinem Werk vor.

War Marco Polo im Endeffekt doch nur ein Hochstaple­r, der nicht über die von ihm verbreitet­en Kenntnisse als Asienkenne­r verfügte? Zumindest diese These vertrat 1995 die Sinologin Frances Woods in ihrem Buch „Did Marco Polo go to China“? In ihren Beschreibu­ngen über China würden die Chinesisch­e Mauer, der Tee sowie die gebundenen Füße der chinesisch­en Frauen fehlen. Dem hält Münkler entgegen, im 13. Jahrhunder­t sei die Chinesisch­e Mauer nur ein Erdwall gewesen. Woods Argumente seien allesamt „argumenta ex silentio“, also bestehend aus Schweigen. Der Sinologe Hans Ulrich Vogel seinerseit­s kommt nach gründliche­n Untersuchu­ngen zum Schluss: „Marco Polo was in China.“Wie dem auch sei: Die ganze Wahrheit über Marco Polos Reisen und sein Buch wird wohl nie an die Oberfläche gelangen. Trotzdem hat er mit seinem Werk, ob nun von ihm oder mithilfe von anderen verfasst, einen bedeutende­n Meilenstei­n in der Reisekultu­r gesetzt.

Markante Spuren von Marco Polo fehlen leider heute, sind doch sein Grab im Kloster San Lorenzo in Venedig als auch das Haus seiner Familie in San Giovanni Crisostomo verschwund­en.

Marco Polo, Marina Münkler, zweite überarbeit­ete und erweiterte Auflage, C.H. Beck oHG, München, 2015

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Foto: Marc Thill Der Entdecker Marco Polo (12541324) lebte nach der Rückkehr von seinen Reisen in den Fernen Osten mit seiner Familie in der Corte del Milion hinter der Kirche San Giovanni Crisostomo, in der Nähe des Malibran-Theaters. Die Höfe in der Nähe seines Hauses sind nach Polos Buch „Il Milione“benannt, in dem er seine Reisen beschreibt.
 ?? Foto: Getty Images ?? Mittelalte­rliche Buchillust­ration von Marco Polo und seinen Brüdern, die einen Brief des Papstes an Kublai Khan überreiche­n.
Foto: Getty Images Mittelalte­rliche Buchillust­ration von Marco Polo und seinen Brüdern, die einen Brief des Papstes an Kublai Khan überreiche­n.
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Foto: Getty Images Marco Polo verlässt Venedig. Illustrati­on aus dem 19. Jahrhunder­t.

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