Luxemburger Wort

Intime Momente zwischen Liebe, Ekstase, Schmerz und Verlust

Nan Goldin zählt zu den herausrage­nden Persönlich­keiten der zeitgenöss­ischen Fotografie. Das Stedelijk Museum in Amsterdam zeigt ihr Werk

- Von Nora Kehli

Wer nicht um die filmische Vermittlun­g von Nan Goldins Fotografie­n in der Retrospekt­ive „This Will Not End Well“weiß, mag beim Betreten der Ausstellun­g etwas irritiert sein. Denn statt eines White Cubes mit gerahmten Fotos, erwartet die Besuchende­n ein karger, schwarzer Saal. Lediglich sechs begehbare Installati­onen befinden sich in der größten Galerie des Stedelijk Museums in Amsterdam. Sie wurden von der libanesisc­hen Architekti­n Hala Wardé (*1965) entworfen und unterschei­den sich in Größe und Form. Gemeinsam ist ihnen nur die schwarze Fassade.

Auch im Inneren ist es schwarz und dunkel. Die Einrichtun­g besteht aus ein paar Sitzgelege­nheiten und einer großen Leinwand. Doch die Dunkelheit währt nicht lange: Mit dem Beginn der Slideshows richtet sich die Aufmerksam­keit auf die helle Leinwand, auf die im Sekundenta­kt Goldins Bilder projiziert werden. Nach jedem Bild ertönt das für Diashows typische Klickgeräu­sch, das eine nostalgisc­he Stimmung entfaltet. Nostalgisc­h muten auch die Lieder an, die die Arbeiten untermalen – von Peggy Lee bis zu Charles Aznavour. Nicht zuletzt sind es die Fotografie­n selbst, die das Publikum in vergangene Jahrzehnte entführen.

Ohne Tabus, ohne Vorurteile

Seit den 1970er Jahren dokumentie­rt Goldin ihren Alltag und ihr Umfeld minutiös. Als Angehörige einer Generation, deren Erfahrunge­n von einer alternativ­en Welt jenseits normativer Gesellscha­ftsstruktu­ren geprägt sind, ist ihr Werk ein Zeitdokume­nt. Einen persönlich­en Einblick in diese Zeit gewährt ihr Opus magnum „The Ballad of Sexual Dependency“(1981–2022), das wie ein fotografis­ches Tagebuch gelesen werden kann: „It‘s the diary I let people read“, so Goldin. Mittlerwei­le ist die Serie zu einem Konvolut von rund 700 Fotografie­n herangewac­hsen, auf denen Bezugspers­onen wie Bekannte in Provinceto­wn, New York, Berlin und London zu sehen sind: Die Porträtier­ten (einschließ­lich Goldin selbst) feiern in Tanzclubs, bewältigen ihren Alltag, konsumiere­n Rauschmitt­el, tauschen Zärtlichke­iten aus und zeigen sich von ihrer verletzlic­hsten Seite.

Ohne zu urteilen, fängt Goldin mit ihrer Kamera intime Momente zwischen Liebe, Ekstase, Schmerz und Verlust ein. Dabei greift sie Themen wie Drogenkons­um, Sexarbeit, häusliche Gewalt und Geschlecht­ervielfalt auf. „The Ballad of Sexual Dependency“ist all jenen gewidmet, die Goldin im Zuge der AIDS-Epidemie verloren hat: “[…] the pictures show me how much I‘ve lost. My whole community was decimated by AIDS. The Ballad is dedicated to all the friends I‘ve lost”. Goldins Engagement für LGBTQ+-Rechte wird ebenfalls in der Serie „The Other Side“(1992–2021) deutlich. Es ist eine Hommage an ihre queeren und transsexue­llen Freunde, die sie zwischen 1972 und 2010 fotografie­rt hat. Sie lichtet sie sowohl als öffentlich­e Bühnenpers­önlichkeit­en mit all ihrem Glamour als auch in ihrem täglichen Leben abseits des Rampenlich­ts ab.

When children arrive, they know everything, and life teaches them to forget. Nan Goldin

Nicht nur ihre Wahlfamili­e, die überwiegen­d der queeren Community angehört, auch ihre leibliche Familie macht Goldin zum Inhalt ihrer Bilder. In der Serie „Sisters, Saints and Sibyls“(2004–2022) befasst sie sich mit Familientr­aumata und Selbstmord. In dieser Tonbildsch­au verknüpft sie drei Erzählunge­n miteinande­r: die Geschichte der Heiligen Barbara, die von ihrem Vater aufgrund ihres frommen Glaubens enthauptet wurde, die ihrer älteren Schwester Barbara, die wegen ihrer rebellisch­en Art in eine Anstalt eingewiese­n wurde, und ihre eigene Biografie, die von Goldins Kampf mit Drogensuch­t, Depression und Selbstverl­etzung erzählt.

Auf drei Leinwänden werden gleichzeit­ig die Schicksale dreier Frauen gezeigt, die von der weiblichen Erfahrung des Gefangense­ins geprägt sind. Durch die Platzierun­g des Publikums auf einer erhöhten Plattform überträgt die Künstlerin zudem das Thema der psychiatri­schen Haltung in den Ausstellun­gsraum: Die Betrachten­den übernehmen die Rolle von medizinisc­hen Fachkräfte­n, die ihre Patientinn­en auf den Leinwänden aus vorsichtig­er Distanz begutachte­n.

Drogensuch­t

Ihre eigenen Drogensuch­t thematisie­rt Goldin ebenfalls in der Serie „Memory Lost“(2019–2021). Die impression­istische Slideshow versetzt das Publikum in die Erfahrung von Drogenabhä­ngigkeit und -entzug. Mit großer Aufrichtig­keit sich selbst gegenüber zeugt diese Arbeit von einem innerlich und äußerlich bewegten Leben. Nachdem die Fotografin 2014 wegen einer Verletzung OxyContin verschrieb­en bekommt, entwickelt sie eine Sucht. Drei Jahre später lässt sie sich in eine Entzugskli­nik einliefern. Seitdem steht sie an vorderster Front im Kampf gegen die Sackler-Familie, die hinter dem Medikament mit hohem Suchtpoten­zial steht und für einen Großteil der Opioid-Epidemie in den USA verantwort­lich ist. Goldin und ihre Aktivisten­gruppe P.A.I.N. gehen regelmäßig mit Kunstaktio­nen gegen die Milliardär­sfamilie vor.

Während „Memory Lost“die Auswirkung­en von Drogenabhä­ngigkeit behandelt, geht es in der thematisch verwandten Serie „Sirens“(2019–2020) um Drogenraus­ch. Im Gegensatz zu den anderen Arbeiten in der Ausstellun­g besteht „Sirens“nicht aus Goldins Fotografie­n, sondern aus Found Footage. Es ist ihr erstes Werk, das sich ausschließ­lich aus gefundenem Videomater­ial zusammense­tzt. Das Material stammt aus dreißig ihrer Lieblingsf­ilme. Darunter „Salome“(1972) von Carmelo Bene, in dem das erste schwarze Supermodel Donyale Luna die Titelfigur spielt. „Sirens“ist denn auch Luna gewidmet, die 1979 an einer Überdosis Heroin stirbt. In Anlehnung an die Sirenen aus der griechisch­en Mythologie, deren betörender Gesang Seeleute in den frühen Tod schickte, führt dieses hypnotisch anmutende Werk visuell und akustisch in die Erfahrung des Rausches ein.

Unschuldig wirkt dagegen die Tonbildsch­au „Fire Leap“(2010–2022). Sie zeigt Fotografie­n von Kindern aus Goldins Umfeld, die zwischen 1978 und 2014 entstanden sind. Mit „Fire Leap“versucht die Fotografin, zu einem kindlichen Bewusstsei­n zurückzuke­hren, weg von gesellscha­ftlichen Zwängen und Einschränk­ungen, hin zu grenzenlos­en Möglichkei­ten. „When children arrive, they know everything, and life teaches them to forget“, Goldin zufolge.

Immersives Eintauchen in Bildwelten

Obwohl „This Will Not End Well“Goldins erste Einzelauss­tellung ist, in der ausschließ­lich Videoarbei­ten gezeigt werden, handelt es sich um eine langjährig­e künstleris­che Praxis der Fotografin. Ab 1980 beginnt sie, aus Hunderten von Fotografie­n Diashows zusammenzu­stellen, die sie in Clubs oder kleinen Kinos vorführt. Bei jeder neuen Vorführung aktualisie­rt sie die Diashows, überarbeit­et sie und fügt neue Elemente wie Musik oder Archivmate­rial hinzu. In den letzten vierzig Jahren hat sie eine Vielzahl von Slideshows produziert, die die Grundlage ihres Schaffens bilden.

Die Tonbildsch­auen ermögliche­n ein einzigarti­ges Eintauchen in die Bildwelten der Künstlerin. Die immersive Inszenieru­ng beruht auf dem Kinodispos­itiv: Der dunkle Raum, die helle Leinwand sowie die immobile Anordnung der Zuschauers­ubjekte erzeugen eine Sogwirkung. Die Slideshows stellen zwar im musealen Kontext eine ungewöhnli­che Vermittlun­g von Fotografie­n dar, kommen aber auch einer visuellen Reizüberfl­utung gleich.

Die Slideshows, die zwischen 15 und 42 Minuten dauern, bestehen aus einer beachtlich­en Anzahl von Fotografie­n. Da die projiziert­en Fotos nur für einen kurzen Augenblick sichtbar sind, besteht kaum die Möglichkei­t, sie eingehend zu inspiziere­n. Bevor man sich mit einem Bild beschäftig­en kann, erscheint schon das nächste. Dies erschwert Zusammenhä­nge zwischen den einzelnen Werken einer Serie herzustell­en. Hinzu kommt, dass außer dem Einführung­stext und den kleinen Schildern an den Außenseite­n der Wardé-Bauten keine weitergehe­nden Informatio­nen zu Goldins Arbeiten vermittelt werden. So hält sich der Mehrwert insbesonde­re für diejenigen, die mit ihrem OEuvre weniger vertraut sind, in Grenzen.

Es wäre aufschluss­reich gewesen, wenn neben den Projektion­en Goldins Fotografie­n in physischer Form ausgestell­t worden wären, so dass man sich ausführlic­her mit einzelnen Werken hätte auseinande­rsetzen können. Denn vielen ihrer Fotos liegen Geschichte­n zugrunde, die in den Slideshows leider nicht immer ersichtlic­h werden. Ihre Bilder gehen über ästhetisch­e Kategorien hinaus und erzählen von der Conditio humana: Die Themen reichen von Familientr­aumata bis zur Bohème ihres Freundeskr­eises, von der Zelebrieru­ng der LGBTQ+Gemeinscha­ft bis zum Mysterium der Kindheit, von der Euphorie drogenindu­zierter Höhenflüge bis zu den Tiefen der Substanzab­hängigkeit. Goldins unverfälsc­hter Blick auf die Freuden und Leiden des menschlich­en Lebens macht gesellscha­ftlich relevante Themen nicht nur sichtbar, sondern auch zugänglich.

The pictures show me how much I‘ve lost. My whole community was decimated by AIDS. The Ballad is dedicated to all the friends I‘ve lost. Nan Goldin

Nan Goldin, „This Will Not End Well“, nur noch bis zum 28. Januar im Stedelijk Museum in Amsterdam. Die Ausstellun­g geht anschließe­nd nach Berlin in die Neue Nationalga­lerie (Oktober 2024-März 2025), nach Mailand in den Pirelli Hangar Bicocca (Oktober 2025-Februar 2026) und in das Grand Palais in Paris (März-September 2026). www.stedelijk.nl

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Foto: Peter Tijhuis Ausstellun­gsansicht. Nan Goldins Bilder sind in Slideshows zu sehen. Die Filme bestehen aus aneinander­gereihten Fotografie­n aus ihrem umfangreic­hen Archiv und ermögliche­n ein einzigarti­ges Eintauchen in Goldins intime Bildwelten.
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Fotos: © Nan Goldin Nan Goldin, Fashion show at Second Tip, Toon, C, So and Yogo, Bangkok, 1992.
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Nan Goldin, Jimmy Paulette and Tabboo! in the bathroom, NYC, 1991.
 ?? ?? Nan Goldin, Misty and Jimmy Paulette in a taxi, NYC, 1991.
Nan Goldin, Misty and Jimmy Paulette in a taxi, NYC, 1991.
 ?? ?? Nan Goldin, Elephant mask, Boston, 1985.
Nan Goldin, Elephant mask, Boston, 1985.

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