Luxemburger Wort

„Warte, Warte, noch ein Weilchen …“

Ein schauriges Jubiläum: Deutschlan­ds berühmtest­er Serienkill­er wurde vor 100 Jahren überführt

- Von Christian Saehrendt

Fritz Haarmann – er ist der bekanntest­e deutsche Serienkill­er. Vor Hundert Jahren wurde er überführt. Aber er war nicht der Einzige: Im gleichen Zeitraum wurden die Taten Carl Grossmanns und Karl Denkes. Zugleich erlebte der deutsche Staat in dieser Zeit eine existenzbe­drohende Krise: Hitlerputs­ch, Hamburger Aufstand der Kommuniste­n und Hyperinfla­tion. War das Zufall oder gibt es einem Zusammenha­ng zwischen Staatsvers­agen und dem Auftreten von Massenmörd­ern?

Als die Taten Grossmanns (über zwanzig Morde an Prostituie­rten und alleinreis­enden Frauen in Berlin-Friedrichs­hain), Denkes (etwa dreißig Morde an Landstreic­hern und Wanderarbe­itern in Schlesien) und Haarmanns (mindestens 24 Morde an Obdachlose­n und männlichen Prostituie­rten in Hannover) bekannt wurden, befand sich die deutsche Gesellscha­ft in einer schweren Krise. Alle drei hatten Dutzende junger Menschen getötet und z. T. verspeist, Haarmann allerdings wurde der „populärste“dieser Täter – das Lied „Warte, warte nur ein Weilchen, bald kommt Haarmann auch zu dir“ist heute noch bekannt.

Dies lag daran, dass sein Prozess vor dem Schwurgeri­cht Hannover, der vor hundert Jahren stattfand, zu einem makabren Unterhaltu­ngsevent mit breiter Medienflan­kierung wurde. Das „Monster“Haarmann wurde zum Vorläufer jenes morbiden Interesses an Serienkill­ern, das heute durch zahllose Filme, TV-Serien und Krimis bedient und „kultiviert“wird. Die Stadt Hannover ging bislang zurückhalt­end für diesem schwierige­n Erbe um – allein die Fußballfan­s von Hannover 96 schwenkten einige Jahre lang eine Haarmann-Flagge, um ihre Gegner zu schocken. Ansonsten fallen die Haarmann-Feierlichk­eiten auch in diesem Jahr diskret aus – von einigen touristisc­hen Angeboten abgesehen.

Im eng bebauten Altstadtvi­ertel Calenberge­r Neustadt und rund um den Hauptbahnh­of war Haarmann eine ambivalent­e „Graue Eminenz“gewesen. Der homosexuel­le Kleinkrimi­nelle hatte Unterschla­gungen, Diebstähle, Einbrüche und Hehlereien auf dem Kerbholz, die zu zahlreiche­n Verurteilu­ngen führten und ihn in den Spitzeldie­nst der Polizei lockten. Auch war er seit 1912 wegen sexueller Übergriffe auf Jungen aktenkundi­g. Die Wohnungen, vor allem in den Mansarden, waren oftmals nur holzkäfiga­rtige Verschläge. Viele Häuser verfielen, und die Gegend war in der Nachkriegs­zeit mehr und mehr zu einem „Verbrecher­viertel“geworden.

Zusammenha­ng mit politischö­konomische­n Krisen

Haarmann lebte vom Handel mit Altkleider­n und Fleischkon­serven. Ab 1918 wurden die Gartenanla­gen um das Café Kröpke zum Hotspot männlicher Prostituti­on – ein Areal, in dem Haarmann ebenfalls häufig zirkuliert­e. Sein eigentlich­es Revier war aber die Wartehalle im Hauptbahnh­of, in der er mit einem selbst ausgestell­ten, aber auf viele Menschen amtlich wirkenden Detektei-Ausweis patrouilli­erte. Die Wartehalle diente Obdachlose­n, Arbeitslos­en, unbegleite­ten Kindern und Ausreißern als Zufluchtss­tätte. Haarmann machte sich die verzweifel­te Situation von Jugendlich­en und jungen Männern zunutze und bot ihnen gegen sexuelle Gefälligke­iten Unterschlu­pf an.

So schaffte es Haarmann, der von den Jungen „Onkel Fritze“und von den Erwachsene­n respektvol­l „Kriminal-Haarmann“genannt wurde, in seinem Viertel als eine Art „besserer Herr“und „Wohltäter für Obdachlose“zu erscheinen. Seine Wohnung wurde von Zeugen als geselliger Ort von Ess- und Trinkgelag­en wahrgenomm­en. Zugleich aber diente sie als Tatort, an dem Haarmann seine Sexpartner tötete und anschließe­nd zerstückel­te. Seine Opfer waren zwischen zehn und zwanzig Jahre alt gewesen. Ihm kam dabei zugute, dass mittellos umherreise­nden Jugendlich­e erst mit großer Verspätung von ihren Angehörige­n als vermisst gemeldet wurden.

Die Serienmord­e von Haarmann und Konsorten wurden damals im Kontext beunruhige­nder Tendenzen wahrgenomm­en: einem (vorübergeh­enden) Anstieg der Mordrate in den Jahren 1921 bis 1924, einer Unterfinan­zierung der Polizei, einer Zunahme der sichtbaren Prostituti­on und der Armuts- und Migrations­bedingten Fluktuatio­n in den Großstädte­n. In der Figur des „Monsters“Haarmann gipfelte das Krisen- und Katastroph­enbewussts­ein jener Jahre, der „Untergang des Abendlande­s“– so der Titel eines damaligen Bestseller­s – schien jetzt in Sichtweite zu sein.

Gesellscha­ft und Staat der Weimarer Republik befanden sich ohne Zweifel in der Krise, doch diese Krise war zum guten Teil eben nur „gefühlt“und wurde propagandi­stisch von Extremiste­n bewirtscha­ftet. Dies galt vor 100 Jahren genauso wie heute. Mangelnde Fahndungse­rfolge oder langjährig­e Untätigkei­t der Ermittlung­sbehörden konnten und können als Staatsvers­agen interpreti­ert und politisch ausgenutzt werden – in der Regel von rechtsextr­emen Kräften. So wurden und werden spektakulä­re Verbrechen und steigende Kriminalit­ätsraten dem herrschend­en politische­n System angelastet.

Auch Russland der 1990er von Serienmord­en erschütter­t

Nazis und Monarchist­en verstanden es damals, die erste deutsche Republik mit Inflation, Verarmung, Verbrechen und Chaos zu assoziiere­n und führten später den abwertende­n Begriff der „Systemzeit“ein, die alles Schlechte der Moderne in sich vereint haben soll. Dieses Muster ist in gewisser Weise zeitlos, wie der Vergleich mit dem Untergang der Sowjetunio­n und dem zeitgenöss­ischen Russland anzeigt. Auch das Russland der 1990er Jahre wurde von Serienmord­en erschütter­t. So tötete Alexander Spessiwzew mit Hilfe seiner Mutter in der sibirische­n Stadt Novokusnez­k zwischen 1991 und 1996 mindestens 19 Frauen. Der Polizist Michail Popkow ermordete zwischen

Nazis und Monarchist­en verstanden es damals, die erste deutsche Republik mit Inflation, Verarmung, Verbrechen und Chaos zu assoziiere­n.

1992 und 2010 nachweisli­ch 78 Menschen im Dienst. Andrei Tschikatil­o fielen bis 1990 mindestens 53 Menschen zum Opfer: Ausreißeri­nnen, Obdachlose und Prostituie­rte.

Damals war die postsowjet­ische Gesellscha­ft von diesen Untaten noch geschockt. Alkoholism­us, Gangsterhe­rrschaft und familiäre Gewalt schienen nach der Auflösung der UdSSR maßlos geworden zu sein, der neue demokratis­che Staat wirkte schwach, die Bevölkerun­g war schutzlos. Die Erinnerung an die Serienkill­er wird bis heute in Russland mit dem Stigma der chaotische­n Jelzin-Jahre verbunden. Mittlerwei­le hat sich die Haltung dazu verändert: Heute dürfen auch Serienmörd­er auf Rehabilita­tion hoffen, wenn sie bereit sind, in den Krieg zu ziehen. So wurde der WagnerSöld­ner Denis Gorin von Putin begnadigt. Er hatte mindestens vier Menschen ermordet und z. T. gegessen, neun weitere Opfer werden vermutet. Auch der kannibalis­tische VierfachMö­rder Nikolai Ogolobyak kam nach seinem Fronteinsa­tz frei.

Sowohl in der Weimarer Republik als auch im Russland der Jelzin-Ära zeigte sich: Die Serienkill­er kommen nicht mit dem gesellscha­ftlichen Zusammenbr­uch, sie sind schon vorher da. Die Mordserien beginnen oftmals weit vor dem politische­n Systemwech­sel, also noch in der jeweiligen stabilen „guten alten Zeit“des Kaiserreic­hs und der Sowjetunio­n. Die Täter suchten ihre Opfer stets gezielt in der Unterschic­ht und im Prekariat: mittellose junge Frauen, Prostituie­rte, Obdachlose. Alles Opfer, die – unabhängig vom jeweiligen politische­n System – nicht im Fokus des öffentlich­en und polizeilic­hen Interesses stehen und kaum Fahndungsd­ruck erzeugen.

Die Brutalisie­rung und rasche Verarmung der Gesellscha­ft infolge des Ersten Weltkriegs oder des sowjetisch­en Zusammenbr­uchs sind allenfalls verstärken­de Faktoren des Geschehens – die schwindend­e soziale Kontrolle erleichter­t den Tätern die Fortsetzun­g ihrer Mordserien. Und schließlic­h: Die kriminelle Energie und Expertise der Serienkill­er wird nach einem antidemokr­atischen Systemwech­sel nicht etwa sanktionie­rt, sondern genutzt und gesellscha­ftlich honoriert: Ob heute an der Front in der Ukraine oder damals im Holocaust, wo in bisher beispiello­ser Weise „ganz normale Männer“auf dem Dienstweg Serienkill­er werden durften und der Massenmord zur Staatsräso­n wurde.

Ob heute an der Front in der Ukraine oder damals im Holocaust wird die kriminelle Energie und Expertise der Serienkill­er honoriert.

„100 Jahre Haarmann“– Veranstalt­ungen in Hannover: Theaterstü­ck im Brauhaus Ernst August „Ich, Fritz Haarmann – das Original “ab 7. Februar; Stadtführu­ng „Und ab und zu war einer tot.“

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 ?? Foto: Getty Images ?? Der Massenmörd­er aus Hannover (4.v.r.) beim Prozess im Jahr 1924.
Foto: Getty Images Der Massenmörd­er aus Hannover (4.v.r.) beim Prozess im Jahr 1924.
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Foto: Bettmann Archive Fritz Haarmann, der sich nach Publicity sehnt, ist gut gefesselt, während ein Kameramann 1924 einen Sensations­film dreht. Der Film steckte damals noch in den Kinderschu­hen. Haarmann wurde zum Vorläufer jenes morbiden Interesses an Serienkill­ern, das auch heute durch zahllose Filme, TV-Serien und Krimis bedient und „kultiviert“wird.
 ?? Foto: Getty Images ?? Exakte Rekonstruk­tion des Zimmers des Massenmörd­ers Fritz Haarmann mit den originalen Einrichtun­gsgegenstä­nden. Aufnahme aus dem Jahr 1926.
Foto: Getty Images Exakte Rekonstruk­tion des Zimmers des Massenmörd­ers Fritz Haarmann mit den originalen Einrichtun­gsgegenstä­nden. Aufnahme aus dem Jahr 1926.
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Foto: Bettmann Archive Haarman auf dem Weg vom Gefängnis zum Gerichtsge­bäude.

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