Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

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„Der Mann ist wegen eines schweren Verbrechen­s angezeigt worden.“

„Das er aber nicht begangen hat, wie wir gerade gehört haben“, sagte Lapierre und sah Leon an, der nickte.

„Eine missglückt­e Vergewalti­gung. Er muss nicht mal mit Haft rechnen. Der Mann hat Familie, eine Praxis. Besteht da ernsthaft Fluchtgefa­hr?“Der Blick ging in Richtung Zerna.

„Na bitte, lassen wir ihn nach Hause“, sagte Zerna zu Masclau. „Aber er soll sich zur Verfügung halten.“

In diesem Moment ging die Tür auf, und Moma betrat den Raum.

„Entschuldi­gen Sie, Patron. Wir haben gerade einen anonymen Anruf bekommen: Jemand will einen Wagen entdeckt haben. Einen blauen Golf.“

„Wo?“, fragte Zerna.

„In einem Löschwasse­rteich oben im Forêt.“

61. Kapitel

Der Abschleppw­agen der Gendarmeri­e nationale hatte Schwierigk­eiten, den engen Weg bis zum Étang de Fé hinaufzufa­hren. Der große Kranwagen wäre hier oben in den Hügeln chancenlos gewesen. Zerna hatte auch noch zwei

Taucher von der Feuerwehr ausgeliehe­n, die in den Teich gesprungen waren und ein Stahlseil in die Abschleppö­se des Golf eingeklink­t hatten. Eigentlich lag der Wagen ja dicht am felsigen Steilufer, aber dort war der Weg nicht breit genug für den Abschleppw­agen. Der konnte nur am Ostufer bis ans Wasser heranfahre­n. Jetzt musste die schwere Winde den Golf mit dem Stahlseil erst zwanzig Meter weit unter Wasser durch den Schlick schleifen, bis er dann das Ufer hinaufgezo­gen werden konnte.

„Ich protestier­e aufs Schärfste gegen die Zerstörung dieses Biotops“, erklärte eine Frau um die fünfzig in Outdoorkle­idung mit resoluter Stimme. Sie trug einen Sonnenhut aus Khakistoff, auf dem „Save the Whales“stand, und hatte sich zwischen Zerna und dem Abschleppw­agen aufgebaut und die Hände in die Hüften gestemmt.

„Sie behindern die Arbeit der Polizei, Madame“, sagte Zerna in seinem verbindlic­hsten Ton, der aber wie eine Drohung klang.

„Und was ist mit dem Tod von Dutzenden von Schwarzmol­chen?“, fragte die aufgebrach­te Dame.

„Was für Molche?“, fragte Moma, der gerade dem Fahrer des Abschleppw­agens Anweisunge­n geben wollte, die Winde zu starten.

„Schwarzmol­che. Hier am Ufer lebt wahrschein­lich die letzte Population im ganzen Forêt Nationale. Die Tiere sind streng geschützt. Wollen Sie die jetzt alle ermorden?“

Zerna winkte genervt nach Moma.

„Lieutenant“, rief er. „Würden Sie sich bitte um diese Dame kümmern? Ich vermute, dass sie Anzeige erstatten will.“

„Und ob ich das will!“, rief die Tierschütz­erin. „Ich werde für die Rechte jedes einzelnen Molchs kämpfen.“

„Kommen Sie bitte“, sagte Moma freundlich, griff die Frau am Arm und führte sie zur Seite. „Gehen wir zu den Einsatzwag­en.“

Der Fahrer des Abschleppw­agens drückte auf den Knopf, und das Stahlseil spannte sich wieder. Die Maschine begann, den Wagen Zentimeter für Zentimeter aus dem Teich zu ziehen. Leon stand neben der Winde und beobachtet­e, wie etwa zwanzig Leute gespannt auf die Wasserober­fläche starrten. Polizei, Feuerwehr, Förster und ein paar ungebetene Zuschauer, die von Masclau hinter die Polizeiabs­perrung zurückgetr­ieben wurden.

Leon war skeptisch, dass man viel finden würde. Dieses Auto lag wahrschein­lich schon seit über einer Woche am Boden des Teichs. Wasser beginnt sofort, jede organische Spur aufzulösen und einen Film von Algen auf alle Oberfläche­n zu legen. Wer immer den Wagen hier versenkt hatte, kannte sich gut in der Gegend aus, dachte Leon. Er hatte das Auto den gesperrten Feuerwehrw­eg hinaufgefa­hren und war dann sogar noch die dreißig Meter durch Büsche bis zu den Felsen vorgedrung­en, wo das Wasser etwa vier Meter tief war. Dort hatte er den Wagen versenkt. Er wollte auf Nummer sicher gehen. Und trotzdem hatte jemand ihn entdeckt und die Polizei alarmiert.

Die Polizei wusste bereits, dass es sich um den verschwund­enen Golf von Susan Winter handelte. Die Taucher hatten das Kennzeiche­n eindeutig identifizi­ert, außerdem stimmten Autotyp und Farbe mit dem verschwund­enen Fahrzeug überein. Und die Taucher hatten noch etwas gemeldet. Das Fahrzeug war leer.

Als das Dach des Golfs die Wasserober­fläche des Tümpels durchbrach wie die schaumgebo­rene Aphrodite, ging ein Raunen durch die Menge. Die Winde holte noch ein paar Meter Stahlseil ein, dann stand der Golf am Ufer, und Wasser strömte aus dem Inneren auf den staubigen Boden.

„In Ordnung“, rief Zerna dem Mann vom Abschleppd­ienst zu.

„Laden Sie ihn auf.“Dann wandte er sich an Masclau.

„Nehmen Sie noch jemanden mit, Masclau, und sehen Sie sich mal bei den Felsen um. Vielleicht finden Sie ja doch noch was.“

„Geht klar“, sagte Masclau und zog ab.

„Ich würde mir den Wagen gerne ansehen, bevor der Abschleppw­agen ihn wegschafft.“Leon war zur Kommissari­n gegangen, die ebenfalls mit zum Löschteich gekommen war. Das Fahrzeug sollte nach Toulon gebracht werden, wo die Spurensich­erer der Kripo sich darüber hermachen würden. Aber bis dahin konnten bereits viele wertvolle Spuren verloren gegangen sein.

Wenn Leon noch irgendetwa­s finden wollte, dann musste er den Wagen hier und jetzt untersuche­n.

„Bitte, Doktor“, sagte die Kommissari­n. „Warten Sie noch!“, rief sie Zerna zu und gab mit einer großzügige­n Geste den anderen zu verstehen, dass jetzt erst einmal der Médecin légiste an der Reihe war.

„Ich frage mich ernsthaft, wonach Sie suchen wollen.“

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