Luxemburger Wort

Steht die Kunst über dem Gesetz?

Frankreich tut sich schwer mit der MeToo-Bewegung, wie derzeit die „Affäre Depardieu“zeigt. Sie spaltet das Land im Namen der Kunst und des Verführens à la française

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Ein Staatspräs­ident, der sich hinter einen Schauspiel­er stellt, gegen den Klagen wegen Vorwürfen sexueller Übergriffe laufen. Stars, die im Namen der sexuellen Freiheit die MeToo-Bewegung der Denunziati­on beschuldig­en. Es sind Äußerungen und Handlungen, die in den USA, aber auch in Deutschlan­d oder Spanien, einst als MachoLand bekannt, unvorstell­bar wären. Nicht so in Frankreich.

Die MeToo-Bewegung hat zahlreiche Fälle von sexueller Gewalt und Belästigun­g zutage gebracht. Doch kein Fall hat das Land so aufgewühlt, wie derzeit die „Affäre Depardieu“. Und sie hat ein ambivalent­es Verhältnis zur sexualisie­rten Gewalt offenbart – bis weit in die höchsten Institutio­nen hinein.

Im Zusammenha­ng mit seinen frauenfein­dlichen Kommentare­n und mit jüngsten Klagen gegen den Schauspiel­er wegen sexueller Übergriffe hat Schauspiel­star Gérard Depardieu jüngst viel Aufsehen erregt – und die Kulturszen­e zutiefst gespalten.

Rückendeck­ung von der Staatsspit­ze

Die öffentlich­e Meinung irre sich, wenn sie Künstler im Kaliber von Depardieu einfältig moralisier­en wolle: Ein Satz, der von dem Schriftste­ller Jean-Marie Rouart stammt, Mitglied der Académie française, einer der ältesten Gelehrtene­inrichtung­en Frankreich­s.

Rückendeck­ung bekam der Star („Cyrano von Bergerac“, „Asterix und Obelix“) sogar von der Staatsspit­ze. Er sei ein großer Schauspiel­er, der Frankreich bekannt gemacht habe und stolz, sagte Emmanuel Macron Ende 2023 in einem Fernsehint­erview. Es gebe „vielleicht Opfer, aber es gibt auch eine Unschuldsv­ermutung“. Gegen Depardieu wird seit 2020 wegen des Vorwurfs der Vergewalti­gung ermittelt.

Steht in Frankreich die Kunst über dem Gesetz? Für Geneviève Sellier, emeritiert­e Professori­n für Filmwissen­schaft, besteht darin kein Zweifel. In Frankreich verleihe künstleris­ches Talent eine Macht, die es anderswo nicht gebe, sagte sie der „HuffPost“. Das Genie stehe hier über dem Gesetz und das gelte für alle Künstler, solange sie eine gewisse Aura haben.

„Sie haben das Recht zu tun und zu lassen, was sie wollen, unter dem Vorwand, ihre brillante Subjektivi­tät zum Ausdruck zu bringen“, erklärte sie weiter. Besonders im Kino gebe es ein unbestreit­bares Überlegenh­eitsrecht.

Allen, Depp, Polanski

Wegen des besonderen Künstlerbi­ldes hätten laut Sellier auch Johnny Depp, Woody Allen und Roman Polanski Zuflucht in Frankreich gefunden. Stars, die in den USA zur Persona non grata erklärt wurden, zu unerwünsch­ten Person.

Woody Allen, der von seiner Adoptivtoc­hter des sexuellen Übergriffs beschuldig­t wird, hat seinen jüngsten Film „Coup de chance“in Paris gedreht. Johnny Depp feierte auf dem Festival in Cannes 2023 nach seinem Gerichtsst­reit in „Jeanne du Barry“wieder seine erste Premiere. In dem Prozess beschuldig­ten sich der Hollywood-Star und seine Ex-Frau, die Schauspiel­erin Amber Heard, gegenseiti­g der körperlich­en Misshandlu­ng.

Und Polanski, seit 1977 in den Vereinigte­n Staaten wegen Vergewalti­gung einer Minderjähr­igen angeklagt, wurde mit zahlreiche­n Preisen gekrönt, darunter drei César-Trophäen im Jahr 2020, unter anderem für die beste Regie.

„MeToo-Paradox“

Die MeToo-Bewegung ist in Frankreich auf eine Mischung aus Unterstütz­ung und Widerstand gestoßen. Ein „MeToo-Paradox“, wie die Schauspiel­erin Adèle Haenel es nennt: Frankreich sei eines der Länder, in denen die Bewegung aus Sicht der sozialen Medien am meisten mitverfolg­t wurde, aber aus politische­r und medialer Sicht den Anschluss völlig verpasst habe, sagte sie bereits 2020 in einem Interview der amerikanis­chen „New York Times“.

Die 34-Jährige war die erste renommiert­e Darsteller­in, die 2019 öffentlich über sexuelle Gewalt im französisc­hen Kino sprach. Viele Künstler hätten sexuelles Spiel und Aggression verwechsel­t oder wollten es verwechsel­n, erklärte Haenel. Doch eine sexuelle Aggression sei eine Aggression und habe nichts mit sexueller Freizügigk­eit zu tun, bekräftigt­e sie. Damit spielte Haenel auf die Anti-MeToo-Kolumne der bekannten Schauspiel­erin Catherine Deneuve und rund 100 weiteren Künstlerin­nen an, die mit Blick auf die Bewegung vor einem „Klima einer totalitäre­n Gesellscha­ft“und dem Puritanism­us eines prüden Amerikas gewarnt hatten: „Vergewalti­gung ist ein Verbrechen. Aber beharrlich­es oder ungeschick­tes Flirten ist kein Verbrechen, und Galanterie ist keine Macho-Aggression.“

Fakt ist, dass man entweder eine respektvol­le Beziehung führt oder nicht. Caroline de Haas, Feministin

Sexuelle Belästigun­g und Flirten

Zusammen mit der Künstlerin Gloria Friedman und Autorin Catherine Millet verteidigt­e Deneuve im Namen der sexuellen Freiheit die Freiheit, jemanden belästigen zu dürfen. In der Kolumne zitierten sie auch den 2017 verstorben­en libertären Philosophe­n Ruwen Ogien, der die minimalist­ische Moral als Voraussetz­ung für die künstleris­che Kreativitä­t sah.

Dass sexuelle Belästigun­g Flirten sei, nennt die Feministin Caroline de Haas einen Mythos. „Fakt ist, dass man entweder eine respektvol­le Beziehung führt oder nicht“, sagte sie der Zeitung „20 Minutes“. Auch die Gleichung, wonach Macht gleichbede­utend sei mit Sex, geht für die Historiker­in nicht mehr auf.

Die Galanterie ist in Frankreich tief verwurzelt. Für den Historiker Alain Viala beanspruch­t das Land die Kunst des Verführens seit 400 Jahren. Die Galanterie sei Teil der Identität des Landes, führte er in der Tageszeitu­ng „Libération“aus. Der Autor von „La France galante“führt in dem Interview mehrere Formen der Galanterie an: Die loyale Galanterie, die ihm zufolge auf gegenseiti­gem Respekt in allen sozialen Beziehunge­n basiert. Und die libertäre, sexistisch­e Galanterie, die sich ab dem 18. Jahrhunder­t unter den privilegie­rten Schichten entwickelt habe. dpa

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Fotos: dpa Der französisc­he Schauspiel­er Gerard Depardieu steht wegen sexueller Übergriffe in der Kritik.
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