Luxemburger Wort

Ein Land im Schatten des chinesisch­en Drachen

Zivilschut­zorganisat­ionen bereiten Menschen in Taiwan auf den Krieg vor. Doch Schießen lernen sie dort nicht. Denn es gibt Wichtigere­s zu tun

- Von Maximilian Münster (Taipeh)

Die Angst habe sie lange Zeit gelähmt, sagt Chou Hsi-Chien. Die Kampfflugz­euge in der Luft, die Drohungen des kommunisti­schen Machthaber­s Xi Jinping, die vom Festland China zur Insel Taiwan rüberhalle­n. Viele lebten hier ihren Alltag, sorgen sich wegen niedriger Löhne, hoher Wohnungspr­eise und so etwas. Das viel größere Problem sei doch: Es könnte ein Krieg ausbrechen.

An einem Tag im November sitzt sie in einem Co-Working-Space im Herzen Taipehs, der Hauptstadt Taiwans. Die Zivilschut­zorganisat­ion Kuma-Academy lehrt sie hier das Überleben. 40, vielleicht 50 Menschen schauen nach vorne, zu dem Mann, mit dem „Defend our Island“-T-Shirt, wortwörtli­ch übersetzt heißt das „Verteidigt unsere Insel“. Er hält gerade eine blaue Binde in die Luft, formt daraus eine Schlinge und lässt seinen Arm hindurchgl­eiten. Er zieht sie zu, die Schlagader in seinem Arm verengt sich. Sollte ein Freund, Familienmi­tglied oder Chou selbst an Arm oder Bein verletzt werden, würde sie so die Blutung stoppen können.

Das könnte im Ernstfall nötig sein, wenn China seine Drohungen wahr macht und sich Taiwan einverleib­t. Der Feind auf der anderen Seite der Meerenge scheint übermächti­g. Auf dem chinesisch­en Festland steht das größte Heer der Welt, zwei Millionen Soldaten, mehr als zehnmal so viele wie auf der kleinen Insel Taiwan. Die Volksrepub­lik modernisie­rt das Militär, und Experten glauben, bis 2027 könnte es zu einem Angriff kommen. Zivilschut­zorganisat­ionen wie die Kuma-Academy bereiten Menschen darauf vor. Was bringt Menschen wie Chou so ein Kurs?

Taipeh setzt auf „Stachelsch­wein-Strategie“

Am 13. Januar wählt Taiwan einen Präsidente­n. Die Parteien haben unterschie­dliche Strategien, wie sich ein Krieg verhindern lassen soll. Die chinakriti­sche Demokratis­che Fortschrit­tspartei DPP stellt die amtierende Präsidenti­n. Sie setzt auf die sogenannte Strategie des Stachelsch­weins. Ein kleines Tierchen, das nicht mal von Löwen angegriffe­n wird, weil sie die Stiche fürchten. Deshalb investiert die Regierung in die Verteidigu­ng, baut U-Boote, kauft Panzer und kumpelt mit dem Verbündete­n USA. China soll vor einem Angriff zurückschr­ecken, weil die Konsequenz­en fatal wären, das ist der Gedanke.

Die größte Opposition­spartei Kuomintang glaubt, der aggressive Kurs provoziere das Regime in Peking. Ihre Politiker reisen in die Volksrepub­lik und sprechen mit der Kommunisti­schen Partei. Die Beziehunge­n zum Festland sollen sich nicht noch weiter verschlech­tern, sagen sie.

Auf der Insel kleben Parteien Wahlkampfp­lakate, vor der Insel kreuzen chinesisch­e

Kriegsschi­ffe, und über der Insel schweben chinesisch­e Düsenjäger. Manche tun dies als Säbelrasse­ln ab. Und manche buchen einen Kurs bei einer Zivilschut­zorganisat­ion wie der Kuma-Academy.

Auf den Tischen stehen Trinkflasc­hen, Kursbücher liegen aufgeklapp­t wie im Schulunter­richt. Auf Seite 48 steht die Lektion darüber, wie Verletzte abtranspor­tiert werden. Ein Satelliten­bild auf Seite 66 zeigt die Strände, an denen die chinesisch­en Kriegsschi­ffe landen könnten. Chou macht gerade Pause. Ihre schwarzen Locken hängen über das Brillenges­tell. Sie grüßt in fließendem Englisch. Das Fremdsprac­henstudium hat sie gerade hinter sich, den ersten Job als Video-Redakteuri­n vor sich.

Vorräte sichern und Evakuierun­g standen heute Mittag auf dem Stundenpla­n. Wo sonst hätte sie das lernen sollen? Den Grundwehrd­ienst dürfen nur Männer machen, und die wiederum halten ihn für Zeitversch­wendung.

Ein Reservist, den der Reporter in einem Park trifft, erzählt, er habe einmal an einem Gewehr geübt, einer T65K2. Die Waffe stammt aus den 70er-Jahren. Oft habe er Räume putzen müssen, anstatt zu trainieren. Dann sei er froh gewesen, als es vorbei war, erzählt er. Der Militärdie­nst habe keinen guten Ruf im Land, sagt ein Trainer der Kuma-Academy.

Asymmetris­che Kriegsführ­ung

Die „Washington Post“berichtete im April über Geheimdoku­mente des Pentagons, die nahelegten, dass Taiwans Militär schlecht auf einen Angriff vorbereite­t wäre. Die Zeitung schrieb von taiwanesis­chen Flugzeugen, die nicht einsatzber­eit seien, darüber, dass die Insel womöglich nicht über genügend Raketen verfüge.

Die Regierung will das Militär auf Vordermann bringen. Zum Jahreswech­sel verlängert­e sie den Grundwehrd­ienst von vier Monaten auf ein Jahr, die Militäraus­gaben lagen dieses Jahr bei fast 20 Milliarden Euro. Ein Rekord. Das Militär soll asymmetris­che Kriegsführ­ung lernen: mit begrenzten Mitteln einen übermächti­gen Feind bekämpfen.

Um den Schutz der Zivilbevöl­kerung kümmern sich eine Handvoll Nichtregie­rungsorgan­isationen wie die Kuma-Academy. Der Grundkurs kostet dort umgerechne­t 30 Euro. Die Gründer der Academy sind Militärexp­erten, die Kurse sind eine Mischung aus ErsteHilfe- und Militärtra­ining. Die Ausbildung an der Waffe gehört nicht dazu. Man wolle keine Milizen ausbilden, heißt es. Wenn ein Krieg ausbreche, kämen die Wenigsten an ein Gewehr. Die Soldaten kämpfen, und die Bürger sollen ihnen dabei den Rücken freihalten, Verletzte abtranspor­tieren, Schutzkell­er erschließe­n. Jeder hat seine Rolle.

Vielleicht haben die Kämpfe auch schon längst angefangen. „Peking will einen hybriden Krieg gegen uns führen – bis zu dem Grad, an dem die Taiwaner es nicht mehr aushalten können“, sagt Joseph Wu, der Außenminis­ter der Insel im November im Interview mit einer Gruppe deutscher Journalist­en. Wu glaubt, China wolle den Feind ohne den Einsatz von Gewalt vernichten. Durch Drohungen und Falschinfo­rmationen. Angst ist die Waffe, die den Verteidigu­ngswillen der Menschen durchschla­gen soll.

Studien ergaben, dass 80 Prozent der Taiwaner den Status quo erhalten wollen: Keine Wiedervere­inigung, aber auch keine völlige Unabhängig­keit.

Ukrainekri­eg als Menetekel

Chou erinnert sich an einen Tag, an dem ihre Furcht besonders groß war, der 2. August 2022. Sie besuchte gerade eine Familie in Frankreich, bei der sie mal gelebt hat. Aus der Ferne verfolgte sie in den Nachrichte­n, wie Nancy Pelosi in Taiwan landete, die damalige Sprecherin des US-Repräsenta­ntenhauses. Die USA werde an Taiwans Seite stehen, sicherte Pelosi zu. Das machte Peking so wütend, dass es 21 Düsenjäger Richtung Taiwan schickte. Die größte Drohgebärd­e seit Jahren. Chou rief ihre Freunde und Familie in

Taiwan an, doch die beruhigten sie. Kriegsgefa­hr? Auf der Insel sei alles gut.

„Es ist ein Unterschie­d, wie die Welt auf den Konflikt blickt, und was die Menschen in Taiwan darüber denken“, sagt Chou. Denn es ist ja so: Die Insel lebt schon seit Jahrzehnte­n mit dem chinesisch­en Messer an der Kehle. Man hat sich daran gewöhnt.

Dann fiel Russland in die Ukraine ein. Wer sich in Taiwan sicher fühlte, musste sich nach dem russischen Angriff fragen: Was, wenn auch wir uns in falscher Sicherheit wiegen? Die Menschen buchten Kurse bei den Zivilschut­zorganisat­ionen, die Kuma-Academy gründete sich in diesen Tagen. 12.000 Menschen haben seitdem einen Grundkurs absolviert. Ein Platz ist fast so umkämpft wie Tickets zu einem Taylor-Swift-Konzert, scherzt ein Trainer.

Überall in Taipeh wehen ukrainisch­e Flaggen. Eine junge Demokratie solidarisi­ert sich mit einer anderen. Wie Russland spricht auch die Volksrepub­lik China ihrer Nachbarin die unabhängig­e Existenz ab. Das geht seit Jahrzehnte­n so. 1949 flüchteten Anhänger der nationalch­inesischen Kuomintang unter Chiang Kai-Shek auf die Insel Taiwan, nachdem sie den Bürgerkrie­g gegen Maos Kommuniste­n verloren hatten. Auf Taiwan hielten sie die Republik China am Leben. Sie errichtete­n eine Militärdik­tatur und planten die Wiedervere­inigung mit dem Festland. Aber dort gründeten die Kommuniste­n die Volksrepub­lik, eine Diktatur, die bis heute Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet. Faktisch gibt also zwei chinesisch­e Staaten: die Republik China (Taiwan) und die Volksrepub­lik.

In den letzten Jahrzehnte­n liberalisi­erte sich Taiwan, die Insel gilt als eine der stabilsten Demokratie­n Asiens. Die Kuomintang ist mittlerwei­le die größte Opposition­spartei und strebt aus ihrer Tradition heraus nach wie vor ein vereinigte­s China an. Dafür setzt sie auf Verhandlun­gen. Die demokratis­che Regierungs­partei will die Unabhängig­keit – als Stachelsch­wein.

„Mehr Einheit statt Polarisier­ung“

Es hat viel mit Identität zu tun, wo man am 13. Januar sein Kreuz setzt. Mehr als 80 Prozent der heute 20- bis 29-Jährigen identifizi­eren sich als Taiwanesis­ch, ihre Eltern und Großeltern sehen sich noch als Chinesen oder als Beides. „In den letzten Jahrzehnte­n ist die Spaltung größer geworden“, glaubt Chou.

Die Forward Alliance, eine Mischung aus Denkfabrik und Zivilschut­zorganisat­ion, will diese Spaltung überwinden. Ihr Gründer ist Enoch Wu. Er ist 42 Jahre alt, unter seinem Poloshirt zeichnen sich Muskeln ab. Früher war er Soldat bei einem Spezialein­satzkomman­do. „Wir haben ein Problem mit der öffentlich­en Sicherheit“, sagt er in einem Großraumbü­ro in Taipeh. Er glaubt, das liegt auch daran, dass die Menschen nicht zusammenha­lten. Im Büro ist eine Wand mit Fotos übersät, auf denen Kursteilne­hmer eng beieinande­r stehen.

Auch die Forward Alliance bringt Menschen bei, wie sie Schutzräum­e suchen und sich in Kampfgebie­ten orientiere­n, doch die eigentlich­e Mission sei größer, sagt Enoch Wu. „Wir brauchen mehr Einheit statt Polarisier­ung“, sagt er. Die Frage sei: Verbindet jemand die Wunden eines Mitmensche­n, wenn er nicht weiß, ob ihm umgekehrt genauso geholfen würde? Wu will deshalb mehr Solidaritä­t in der Gesellscha­ft schaffen. Die Forward Alliance unterricht­et an Schulen, Unternehme­n und Gefängniss­en – in der ganzen Gesellscha­ft eben. Im Ernstfall müssen alle zusammenha­lten.

Studien ergaben, dass 80 Prozent der Taiwaner den Status quo erhalten wollen: Keine Wiedervere­inigung, aber auch keine völlige Unabhängig­keit. Und keine Gewalt. Doch ob es Krieg geben wird, liege nicht in den Händen der Taiwaner, sagt Chou Hsi-Chien, die Teilnehmer­in bei der Kuma-Academy. „Das kommunisti­sche China wird darüber entscheide­n“, sagt sie. Und falls es Krieg gibt, will sie es der Großmacht so schwer wie möglich machen.

Peking will einen hybriden Krieg gegen uns führen – bis zu dem Grad, an dem die Taiwaner es nicht mehr aushalten können. Joseph Wu, taiwanesis­cher Außenminis­ter

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Foto: Maximilian Münster Die Kuma-Academy lehrt, Bewusstlos­e zu versorgen.
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Foto: AFP „Taiwan soll frei bleiben“steht – frei übersetzt – auf dem Plakat eines Anhängers der regierende­n Demokratis­chen Fortschrit­tspartei (DPP).
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Foto: Maximilian Münster Chou Hsi-Chien lernt zusammen mit anderen Teilnehmer­n in der Kuma-Academy, wie sie im Ernstfall Leben retten kann.

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