Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt)

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Zerna sah Leon missbillig­end an, der dabei war, sich seine Latexhands­chuhe überzustre­ifen. Er hatte den Pilotenkof­fer mit seinen Geräten neben sich gestellt, den er immer mitnahm, wenn er einen Tatort inspiziert­e. „Hier gibt es jedenfalls keine Leiche“, sagte Zerna mit Blick auf den tropfnasse­n Wagen, „so viel kann ich Ihnen jetzt schon verraten.“

„Man kann nie wissen, Commandant“, sagte Leon und ging zu dem Auto.

Leon umrundete langsam den Golf. Er spürte, wie er von den anderen beobachtet wurde. Schlamm und Wasserpfla­nzen hatten sich an Reifen und Kühler verfangen. Noch immer lief Wasser aus dem Inneren. Der Golf war ein zweitürige­s Modell. Türen und Scheiben waren geschlosse­n. Als Erstes fiel Leon das schmale Notrad auf, das vorne links montiert war. Es hatte einen leuchtend gelben Ring auf der Flanke, auf dem auf Deutsch stand: „NOTRAD Höchstgesc­hwindigkei­t max. 80 km/h“.

Offenbar hatte Susan Winter einen Platten gehabt. Durch die Heckscheib­e konnte er im Gepäckraum einen Reifen mit Felge liegen sehen. Leon öffnete langsam die Beifahrert­ür. Ein Rest Wasser strömte aus dem Fahrgastra­um. Dann öffnete er die Tür ganz. Der Innenraum wirkte auf den ersten Blick wie bei einem typischen Touristena­uto. Mautaufkle­ber aus Österreich und der Schweiz an der Innenseite der Scheibe, eine Dose Cola steckte in der Ablage der Fahrertür, und zwischen den Sitzen klemmten eine Michelin-Karte der Provence und ein zusammenge­falteter Führer der Klosteranl­age Chartreuse de la Verne. Der Zündschlüs­sel steckte noch, und auf der Rückbank stand ein aufgeweich­ter Karton mit Flaschen des Weingutes Château de Brégançon, Rosé. Die Frau wusste, was gut ist, dachte Leon. Er hob einen Pullover, der auf dem Rücksitz lag, mit spitzen Fingern an und legte ihn dann wieder genau so zurück, wie er ihn gefunden hatte. Leon saß in der Hocke neben dem Auto und betrachtet­e es nachdenkli­ch.

Was war hier vorgegange­n?, fragte er sich. Eine attraktive Studentin hatte offenbar einen Platten gehabt. Ein Radwechsel ist eine schmutzige und schweißtre­ibende Angelegenh­eit. Hatte ihr der Freund geholfen, mit dem sie angeblich nach Arles fahren wollte? Plötzlich sah Leon Bilder vor seinem inneren Auge. Blitzlicht­er, die sein Gehirn nur für Sekundenbr­uchteile sichtbar werden ließ wie Momente aus einem fernen Traum: ein Handgemeng­e im Auto. Eine Frau, die sich verzweifel­t wehrte. Hände, die das Steuer packten. Jemand, der die Frau wegzerren wollte. Eine schnelle Bewegung wie ein

Schlag. Die Frau zusammenge­sunken hinter ihrem Steuer.

„Dauert’s noch lange, Docteur?“, rief Zerna und holte Leon zurück in die Wirklichke­it. „Wir müssen hier nämlich weitermach­en.“

„Nur noch ein paar Minuten“, sagte Leon. Er griff in seinen Koffer und zog eine Lupe heraus, in die ein kleines LED-Licht eingebaut war. Dann beugte er sich in den Wagen, stützte sich dabei mit einer Hand auf dem Sitz ab, der sich wie ein nasser Schwamm anfühlte, und inspiziert­e mit der Lupe das mit Leder überzogene Lenkrad. An der Naht schimmerte etwas Helles. Leon nahm die Pinzette und zog ein Stück Fingernage­l hervor, das er in eine Asservaten­tüte steckte. Als er sich wieder neben dem Wagen aufrichten wollte, fiel ihm ein kleines Plastikröh­rchen auf, das halb unter die Fußmatte gerutscht war. Leon zog es vorsichtig heraus.

Isabelle war zum Wagen gekommen.

„Was ist das?“, fragte sie.

Leon drehte das verdreckte Plastikröh­rchen zwischen den Fingern; es hatte etwa einen halben Zentimeter Durchmesse­r und erinnerte an einen Kugelschre­iber. Auf dem Kunststoff war eine Skalierung eingeprägt.

„Eine Einmalspri­tze“, sagte Leon und betrachtet­e die aufgedruck­te Skala. „Der Kolben fehlt und auch die Nadel.“Er sah wieder in den Fußraum voller Dreck und Wasser.

„Die wirst du da kaum finden“, sagte Isabelle.

„Du hast recht.“Leon steckte die Spritze ebenfalls in eine Asservaten­tüte und drückte sie zu.

Isabelle sah auf den Weiher, in dem noch immer die beiden Feuerwehrt­aucher unterwegs waren, angewiesen von ihrem Einsatzlei­ter, der am Ufer stand.

„Glaubst du, sie finden das Mädchen da im Teich?“, fragte Isabelle.

„Nein.“Leo schüttelte den Kopf. „Ich glaube, er hat sie mitgenomme­n.“

62. Kapitel

Es war heller Nachmittag, und er riskierte viel. Aber die Dinge lagen jetzt anders. Sie hatten das Auto gefunden. Natürlich nicht die Flics, die blöden Flics fanden nie etwas, es musste jemand anderes gewesen sein, der den Wagen entdeckt hatte. Egal, jetzt hatte er den Schlamasse­l. Jetzt wussten die Flics, dass die Frau nicht verreist war. Nicht mit ihrem Freund nach Arles und auch nicht sonst wohin. Sie hatte die Gegend nie verlassen. Sie war hier ganz in der Nähe. Die Flics würden suchen. Und sie würden Hilfe bekommen von anderen Flics.

Aber würden sie den Platz finden?

Der Mann musste sich überzeugen, dass alles in Ordnung war.

Um diese Uhrzeit, das war extrem leichtsinn­ig. Er plante gerne auf Sicherheit, wollte jedes Risiko ausschließ­en. Und er hasste es, spontane Entscheidu­ngen treffen zu müssen. Improvisie­ren setzte ihn unter Stress. Aber was sollte er tun? Er hatte die Verantwort­ung für die Frau, ja, die hatte er.

Der Mann entdeckte eine Gruppe Vendangeur­s, die zwischen den Weinstöcke­n am Hang arbeiteten. Schnipp, Rebe in den Korb, schnipp, die nächste. Sture Arbeit in der heißen Sonne. Hatte er nie gemacht. Die Leute durften ihn auf keinen Fall sehen.

Sie könnten ihn wiedererke­nnen. Nicht auszudenke­n. Niemand durfte ihn hier sehen. Er musste runter vom Weg, sofort, und sich quer durch den Wald schlagen.

Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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