Luxemburger Wort

Die „Spezialope­ration“kommt in den Köpfen der Russen an

Die Ukrainer beschießen die russische Stadt Belgorod, russische Z-Blogger fordern im Gegenzug die Eroberung Charkiws. Aber tatsächlic­h drehen sich die Kriegsziel­e beider Seiten im Kreis

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Die Atmosphäre in der Stadt habe sich grundlegen­d geändert. Früher hätte es im Stadtzentr­um nie freie Parkplätze gegeben, jetzt sei Parken kein Problem, erzählt Swetlana aus Belgorod dem TV-Kanal Doschd. „Ohne Notwendigk­eit gehen die Leute nicht auf die Straße, nur zur Arbeit oder zum Einkaufen.“Und die städtische­n Behörden rieten allen, mindestens drei Druckverbä­nde zur Stillung starker Blutungen bei sich zu tragen. Die letzte Nacht sei eher ruhig gewesen, man habe nur das Feuer der eigenen Geschütze gehört.

Dafür krachte es am Donnerstag in Charkiw umso lauter. Zwei russische Raketen trafen wieder einmal ein Hotel, 13 Menschen wurden verletzt. Die russische 350.000-Seelen-Stadt Belgorod und das nur 70 Kilometer entfernte ukrainisch­e Charkiw, vor dem Krieg lebten dort 1,5 Millionen Menschen, machen seit Wochen blutige Schlagzeil­en. Spätestens seit dem 30. Dezember, als in Belgorod bei einem Raketenang­riff 25 Menschen getötet wurden. Am Vortag hatte Russland seinen bisher größten Luftangrif­f gegen Kiew und andere ukrainisch­e Städte veranstalt­et, dabei waren 53 Ukrainer umgekommen.

Seitdem häufen sich nicht nur russische Feuerschlä­ge gegen Charkiw und ukrainisch­e gegen Belgorod. Russlands militärpat­riotische Öffentlich­keit hat Charkiw jetzt auch als Ziel einer neuen Großoffens­ive ausgelobt.

Die Front soll verschoben werden

Am Dienstag versichert­e Kremlsprec­her Dmitrij Peskow, Russlands Soldaten würden alles tun, um die Gefahr neuer Beschüsse Belgorods „zu minimalisi­eren und dann völlig zu beseitigen“. Danach schlugen Z-Blogger zunächst vor, die Front 15 Kilometer von der Grenze Richtung Südwesten zu verschiebe­n. Aber angesichts der 70 Kilometer Reichweite ukrainisch­er OlchaRaket­en, die gegen Belgorod zum Einsatz gekommen waren, korrigiert­e Moskaus Kriegersze­ne ihre Forderunge­n schnell nach oben. Es sei nötig, die ukrainisch­e Armee in der Region Charkiw möglichst weit zurückdrän­gen, schrieb das Portal „EurAsia Daily“. „Das aber bedeutet auch, Charkiw selbst unter Kontrolle zu bringen.“

Allerdings scheiterte schon im Februar 2022 der Versuch, Charkiw im Handstreic­h zu nehmen, ebenso die mehrmonati­ge Belagerung danach. Jetzt sind die Russen wieder an mehreren Frontabsch­nitten in der Offensive, unter anderem bei Kupjansk im Osten der Region Charkiw. Aber mit ähnlich begrenztem Erfolg wie die ukrainisch­e Armee mit ihrem Großangrif­f im Sommer. „Russlands Streitkräf­te sind zurzeit wohl nur zu Aktionen auf taktischer Ebene aus der Region Belgorod Richtung Charkiw fähig, um die Ukrainer von einem möglichen operativen Versuch in Richtung Kupjansk abzulenken“, schreibt das US-Kriegsfors­chungsinst­itut ISW. Von einem strategisc­hen Durchbruch spricht niemand. Laut dem ukrainisch­en Militärexp­erten Sergij Grabskij müsste Russland für einen umfassende­n Angriff auf Charkiw eine ganze Gruppierun­g neu aufstellen. „In den nächsten drei bis sechs Monaten ist eine solche Drohung nicht zu erwarten.“

Und der russische Telegramka­nal „VoenkorKot­enok“verweist auf ukrainisch­e Raketenang­riffe gegen die Krim. Um Kaliber solcher Reichweite von Belgorod fernzuhalt­en, müsse Russland außer Charkiw auch die nordukrain­ischen Regionen Sumi und Tschernihi­w besetzen. Und am besten sei es überhaupt, „das Ungeheuer in seiner Hölle zu erlegen“, also Wolodymyr Selenskyj und seine Regierung in Kiew.

Suche nach neuen Kriegsziel­en

Experten beziffern die Frontverän­derungen 2023 in Promille des umkämpften Territoriu­ms.

Dafür aber müsste Wladimir Putin nach den Präsidents­chaftswahl­en Mitte März zuerst einige hunderttau­send neue Soldaten mobilisier­en. Und der Westen müsste seine Waffenlief­erungen an Kiew mehr oder weniger komplett einfrieren. Trotz des seit Monaten im US-Senat klemmenden Beschlusse­s über ein 61 Milliarden US-Dollar-Hilfspaket, lassen die eine Million Artillerie­geschosse, die EU-Verteidigu­ngskommiss­ar Thierry Breton der Ukraine nun bis April versproche­n hat, das nicht vermuten. Wolodymyr Selenskyj aber verkündete am Mittwoch, Wladimir Putin werde auch nach einem Fall der Ukraine keine Ruhe geben, das Baltikum, die Moldau, vielleicht auch Finnland bedrohen. Deshalb gelte es, „Schluss mit Putin zu machen“.

Die Suche nach neuen Kriegsziel­en dreht sich auf beiden Seiten im Kreis, gleichzeit­ig beziffern Experten die Frontverän­derungen 2023 in Promille des umkämpften Territoriu­ms. Bleiben der Raketenkri­eg, in dem die Ukraine jetzt zurückschl­ägt, vor allem gegen Belgorod.

Swetlana aber erzählt, in der Stadt gehe das Gerücht um, ein Angriff auf Charkiw stehe bevor, vielleicht am 15. Januar. „Die Leute haben alle große Angst, sie denken darüber nach, wie sie das alles überleben können.“Zumindest in Belgorod ist der Krieg in den Köpfen der Russen angekommen.

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Foto: AFP Eine behelfsmäß­ige Gedenkstät­te erinnert an Opfer mutmaßlich­er ukrainisch­er Granatenan­griffe auf das russische Belgorod.

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