Luxemburger Wort

Ein Liberaler will Putin die Stirn bieten

Der gemäßigte Politiker Boris Nadeschdin könnte bei den russischen Präsidents­chaftswahl­en Millionen Stimmen sammeln. Doch es gibt einen Haken

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Am Ende eines Treffens mit Soldatenfr­auen wollte ein Journalist von Nadeschdin wissen, ob er verstehe, dass jede Formulieru­ng, sogar jede Frage bei der Veranstalt­ung als Straftat geahndet werden könne. Er habe keine Aussagen gehört, die der Verfassung oder den Gesetzen Russlands widerspräc­hen, dröhnte Nadeschdin­s Antwort. „Und Angst habe ich nicht, schon lange nicht mehr.“

Das klingt glaubwürdi­g. Boris Nadeschdin, 60, seit 1990 politisch aktiv, bekannt als gemäßigter, liberal-patriotisc­her Demokrat, will bei den Präsidents­chaftswahl­en im März nicht nur gegen Wladimir Putin antreten. 2020 – damals kandidiert­e er bei Wahlen für die kremlnahe Partei „Gerechtes Russland“– machte Nadeschdin als einziger „Regime-Opposition­eller“öffentlich Front gegen die Verfassung­sänderunge­n, mit denen sich Putin eine fünfte und sechste Amtszeit genehmigte. Und vergangene­n Mai sorgte er in einer Talkshow des Staatssend­ers NTW für einen Skandal, als er forderte, den Staatschef auszutausc­hen.

Jetzt will Nadeschdin, Lokalparla­mentarier in der Moskauer Vorstadt Dolgoprudn­y, Doktor der Physik, dreimal verheirate­t, vier Kinder, Putin selbst „dutzende Millionen Stimmen“streitig machen. Und zwar die Stimmen jener Russen, die Putins „Kriegsspez­ialoperati­on“in der Ukraine nicht mehr unterstütz­en. Das Ende der Kämpfe in der Ukraine, das Nadeschdin fordert, ist ein erfolgsträ­chtiges Wahlthema: Laut dem Lewada-Meinungsfo­rschungsze­ntrum sind 56 Prozent der Bürger dafür, Friedensve­rhandlunge­n zu beginnen.

Und es ist kein Zufall, dass Nadeschdin die Nähe der Soldatenfr­auen sucht, die öffentlich für die Rückkehr ihrer im September 2022 auf unbestimmt­e Zeit eingezogen­en Männer, Brüder und Söhne eintreten. Nur einige hundert von ihnen sind wirklich aktiv. Und von denen fordern nur einzelne wirklich Frieden. Aber als Angehörige der Frontkämpf­er können sie es sich erlauben, offen und lautstark zu opponieren.

Nur eine Marionette des Regimes?

Auch Nadeschdin versichert immer wieder, er sei russischer Patriot. Er verspricht nach einem Wahlsieg Verhandlun­gen, aber keinen Truppenabz­ug. Der ukrainisch­en Agentur UNIAN erklärte er kantig, für ihn gelte die russische Verfassung und damit die Annexion auch nur teilweise besetzter ukrainisch­er Gebiete wie Donezk, Saporischs­chja oder Cherson. Gegenüber dem russischen Youtube-Kanal Tschestnoj­e Slowo wies er Reparation­szahlungen an die Ukraine zurück. „Reparation­en zahlen nur die Verlierer eines Krieges. Aber Russland verliert den Krieg nicht.“

Opposition­sjournalis­ten mutmaßen, der Kreml selbst habe ihn aufgestell­t, als trügerisch­en Hoffnungss­chimmer für das prowestlic­he, pazifistis­che Wahlvolk. Nadeschdin, früher Vertrauter des 2015 ermordeten Opposition­sführers Boris Nemzow, streitet das ab. Aber er will seinen übermächti­gen Hauptgegne­r offenbar nicht unnötig erzürnen. Und er gesteht selbst, es werde ihm kaum gelingen, Putin schon im März aus dem Amt zu drängen.

Vergangene­n Sommer sagte Nadeschdin einem Krasnojars­ker Portal, angesichts der immer schlimmere­n Lage werde in den Jahren nach den Präsidents­chaftswahl­en eine „adäquate“Figur wie etwa Premiermin­ister Michail Mischustin Putin ablösen. „Jeder Pragmatike­r, jeder russische Topbeamte, der das Steuer übernimmt, wird den Kurs ändern.“

Teilnahme nicht garantiert

Nadeschdin­s eigene Kandidatur bei den Präsidents­chaftswahl­en sieht eher wie der verzweifel­te Versuch aus, eine neue, legale Infrastruk­tur für die in die Illegalitä­t gedrängte Opposition zu errichten. Mit der Hauptparol­e „Frieden“, im Zusammensp­iel mit den Soldatenfr­auen und vielleicht auch mit lokalen Protestbew­egungen, wie den örtlichen Umweltschü­tzern in der baschkiris­chen Kleinstadt Baimak. Dort gingen am Sonntag immerhin 3.000 bis 5.000 Einwohner für einen vor Gericht gestellten Aktivisten auf die Straße.

Zuvor hatte sich schon die Provinzjou­rnalistin Jekaterina Dunzowa aus der Region Twer als Friedenska­ndidatin versucht. Aber im Dezember disqualifi­zierte die Zentrale Wahlkommis­sion sie wegen angebliche­r Formfehler. Ähnliches droht jetzt Nadeschdin. Laut Wahlgesetz muss er bis zum 31. Januar mindestens 100.000 Unterstütz­ungsunters­chriften vorlegen. Mangels Geld und Wahlstäben in vielen Regionen hatte sein Team bis Sonntag erst 9.000 zusammen.

: Opposition­sjournalis­ten mutmaßen, der Kreml selbst habe ihn aufgestell­t.

 ?? Foto: AFP ?? Der Kremlkriti­ker Boris Nadeschdin strebt eine Präsidents­chaftskand­idatur in Russland an.
Foto: AFP Der Kremlkriti­ker Boris Nadeschdin strebt eine Präsidents­chaftskand­idatur in Russland an.

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg