Ein Liberaler will Putin die Stirn bieten
Der gemäßigte Politiker Boris Nadeschdin könnte bei den russischen Präsidentschaftswahlen Millionen Stimmen sammeln. Doch es gibt einen Haken
Am Ende eines Treffens mit Soldatenfrauen wollte ein Journalist von Nadeschdin wissen, ob er verstehe, dass jede Formulierung, sogar jede Frage bei der Veranstaltung als Straftat geahndet werden könne. Er habe keine Aussagen gehört, die der Verfassung oder den Gesetzen Russlands widersprächen, dröhnte Nadeschdins Antwort. „Und Angst habe ich nicht, schon lange nicht mehr.“
Das klingt glaubwürdig. Boris Nadeschdin, 60, seit 1990 politisch aktiv, bekannt als gemäßigter, liberal-patriotischer Demokrat, will bei den Präsidentschaftswahlen im März nicht nur gegen Wladimir Putin antreten. 2020 – damals kandidierte er bei Wahlen für die kremlnahe Partei „Gerechtes Russland“– machte Nadeschdin als einziger „Regime-Oppositioneller“öffentlich Front gegen die Verfassungsänderungen, mit denen sich Putin eine fünfte und sechste Amtszeit genehmigte. Und vergangenen Mai sorgte er in einer Talkshow des Staatssenders NTW für einen Skandal, als er forderte, den Staatschef auszutauschen.
Jetzt will Nadeschdin, Lokalparlamentarier in der Moskauer Vorstadt Dolgoprudny, Doktor der Physik, dreimal verheiratet, vier Kinder, Putin selbst „dutzende Millionen Stimmen“streitig machen. Und zwar die Stimmen jener Russen, die Putins „Kriegsspezialoperation“in der Ukraine nicht mehr unterstützen. Das Ende der Kämpfe in der Ukraine, das Nadeschdin fordert, ist ein erfolgsträchtiges Wahlthema: Laut dem Lewada-Meinungsforschungszentrum sind 56 Prozent der Bürger dafür, Friedensverhandlungen zu beginnen.
Und es ist kein Zufall, dass Nadeschdin die Nähe der Soldatenfrauen sucht, die öffentlich für die Rückkehr ihrer im September 2022 auf unbestimmte Zeit eingezogenen Männer, Brüder und Söhne eintreten. Nur einige hundert von ihnen sind wirklich aktiv. Und von denen fordern nur einzelne wirklich Frieden. Aber als Angehörige der Frontkämpfer können sie es sich erlauben, offen und lautstark zu opponieren.
Nur eine Marionette des Regimes?
Auch Nadeschdin versichert immer wieder, er sei russischer Patriot. Er verspricht nach einem Wahlsieg Verhandlungen, aber keinen Truppenabzug. Der ukrainischen Agentur UNIAN erklärte er kantig, für ihn gelte die russische Verfassung und damit die Annexion auch nur teilweise besetzter ukrainischer Gebiete wie Donezk, Saporischschja oder Cherson. Gegenüber dem russischen Youtube-Kanal Tschestnoje Slowo wies er Reparationszahlungen an die Ukraine zurück. „Reparationen zahlen nur die Verlierer eines Krieges. Aber Russland verliert den Krieg nicht.“
Oppositionsjournalisten mutmaßen, der Kreml selbst habe ihn aufgestellt, als trügerischen Hoffnungsschimmer für das prowestliche, pazifistische Wahlvolk. Nadeschdin, früher Vertrauter des 2015 ermordeten Oppositionsführers Boris Nemzow, streitet das ab. Aber er will seinen übermächtigen Hauptgegner offenbar nicht unnötig erzürnen. Und er gesteht selbst, es werde ihm kaum gelingen, Putin schon im März aus dem Amt zu drängen.
Vergangenen Sommer sagte Nadeschdin einem Krasnojarsker Portal, angesichts der immer schlimmeren Lage werde in den Jahren nach den Präsidentschaftswahlen eine „adäquate“Figur wie etwa Premierminister Michail Mischustin Putin ablösen. „Jeder Pragmatiker, jeder russische Topbeamte, der das Steuer übernimmt, wird den Kurs ändern.“
Teilnahme nicht garantiert
Nadeschdins eigene Kandidatur bei den Präsidentschaftswahlen sieht eher wie der verzweifelte Versuch aus, eine neue, legale Infrastruktur für die in die Illegalität gedrängte Opposition zu errichten. Mit der Hauptparole „Frieden“, im Zusammenspiel mit den Soldatenfrauen und vielleicht auch mit lokalen Protestbewegungen, wie den örtlichen Umweltschützern in der baschkirischen Kleinstadt Baimak. Dort gingen am Sonntag immerhin 3.000 bis 5.000 Einwohner für einen vor Gericht gestellten Aktivisten auf die Straße.
Zuvor hatte sich schon die Provinzjournalistin Jekaterina Dunzowa aus der Region Twer als Friedenskandidatin versucht. Aber im Dezember disqualifizierte die Zentrale Wahlkommission sie wegen angeblicher Formfehler. Ähnliches droht jetzt Nadeschdin. Laut Wahlgesetz muss er bis zum 31. Januar mindestens 100.000 Unterstützungsunterschriften vorlegen. Mangels Geld und Wahlstäben in vielen Regionen hatte sein Team bis Sonntag erst 9.000 zusammen.
: Oppositionsjournalisten mutmaßen, der Kreml selbst habe ihn aufgestellt.