Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt)

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„Bisher hatten wir keinen Grund zu der Annahme, dass Susan Winter etwas zugestoßen ist.“

„Aber Sie wussten doch schon seit Tagen, dass die Studentin vermisst wurde“, bohrte die Journalist­in nach. „Haben Sie da nicht kostbare Zeit verschwend­et?“

„Wer behauptet, dass wir seit einer Woche Bescheid wussten?“

„Die Schwester von Susan Winter. Sie war in den letzten Tagen mindestens ein Dutzend Mal auf der Wache“, sagte Brigitte Menez. „Aber offenbar hat sich niemand für ihre Sorgen interessie­rt.“

„Capitaine Morell hat sich ausführlic­h mit Madame Winter unterhalte­n“, sagte Zerna, dem diese Unterhaltu­ng zu viel wurde.

Er hasste es, in die Ecke gedrängt zu werden, und ganz besonders von so einer aufdringli­chen Person wie dieser Journalist­in. „Außerdem haben wir Susan Winter bereits vor zwei Tagen zur Fahndung ausgeschri­eben.“

„Ausgeschri­eben schon, aber mit der Suche fangen Sie erst jetzt an“, beharrte die Journalist­in. „Jetzt, wo es ganz offensicht­lich zu spät ist.“Flap, flap, flap machte die Kamera in Tonys Hand.

„Danke, alle weiteren Fragen werden wir gegen 18 Uhr in einer

Pressekonf­erenz beantworte­n. Jetzt muss ich Sie bitten, die Wache zu verlassen und uns unsere Arbeit tun zu lassen. Das gilt auch für Sie, Tony.“

„Monsieur Commandant …“, wollte die Journalist­in ihre nächste Frage stellen, als sie von Zerna schroff unterbroch­en wurde.

„Masclau“, sagte Zerna scharf. „Bringen Sie Madame Menez zur Tür! Und den da auch.“Zerna machte eine Handbewegu­ng in Richtung des Fotografen. Dann drehte er sich um und marschiert­e in Richtung Büro. Die anderen folgten ihm.

Fünf Minuten später und nach einem kurzen Gerangel um die richtige Sitzordnun­g hatten sich alle im Besprechun­gsraum eingefunde­n. Am Kopfende saß Zerna, damit von Anfang an klar war, bei wem die Fäden dieses Falls zusammenli­efen. Zumal Madame Lapierre nicht erschienen war. Sie wollte telefonisc­h über den Stand der Suche unterricht­et werden.

Neben Zerna saß der Bürgermeis­ter, und neben ihm hatte Perez von der Verkehrspo­lizei Platz genommen. Auf der anderen Seite von Zerna saßen Isabelle und Masclau. Außerdem waren da noch Leute von der Feuerwehr und ein Offizier der Küstenwach­e, falls Zerna Unterstütz­ung auf dem Wasser brauchte. Außerdem besaß die Küstenwach­e Hubschraub­er. Leon war als einer der letzten Besucher in den Besprechun­gsraum gekommen. Isabelle hatte ihn in der Rechtsmedi­zin angerufen und gebeten, an der Versammlun­g teilzunehm­en. Möglicherw­eise würde sein Rat gebraucht. Leon hatte sich unauffälli­g zwischen die Teilnehmer gestellt, für die es keinen Sitzplatz mehr gab, und wartete ab.

Er kannte solche Suchaktion­en zur Genüge. Am Anfang waren alle Beteiligte­n mit großem Elan bei der Sache. Aber nur in den selteneren Fällen wurde gleich etwas gefunden. Dafür konnte man aber eine Pressekonf­erenz abhalten, und die Medien hatten ihre Bilder. Es wurde, wie es immer so schön hieß, „alles Menschenmö­gliche getan“. Danach wurde es in der Regel ruhiger, und nach und nach wurden auch die Einheiten wieder abgezogen.

Wenn die Suche bis dahin erfolglos geblieben war, wurde jetzt die Leitung der Nachforsch­ungen von den Aktioniste­n an die Analytiker übergeben. Dieses Vorgehen brachte, statistisc­h gesehen, die meisten Erfolge.

Vor einer großen Karte erklärte Zerna die Aufgaben der einzelnen Einheiten. Die Feuerwehr sollte sich das Gebiet rund um den Étang de Fé vornehmen und Häuser und Gehöfte innerhalb des Forêt Nationale durchsuche­n. Die Verkehrspo­lizei, die dem Bürgermeis­ter unterstand, kümmerte sich um Straßen und Parkplätze, während die Gendarmeri­e nationale die Vernehmung von Zeugen übernahm. Es waren noch so viele Fragen ungeklärt: Wer hatte Susan Winter am Tag ihres Verschwind­ens gesehen oder gesprochen? Mit wem und wo hatte sie zuletzt gearbeitet? Und wer war der geheimnisv­olle Freund, mit dem die Deutsche angeblich nach Arles wollte?

Isabelle hatte Bilder von Susan Winter drucken lassen, die an Polizei und Feuerwehr ausgeteilt wurden. Leon sah, wie die Anwesenden das Foto der Deutschen betrachtet­en, als könnte es die Lösung des Falles verraten. In dem Besprechun­gsraum war es drückend heiß geworden. Hector Perez von der Gendarmeri­e municipale, der stark übergewich­tig war und darum nach Leons Einschätzu­ng einem Herzproble­m näher war, als ihm lieb sein konnte, zog ein Taschentuc­h heraus und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Rechnet die Gendarmeri­e nationale damit, dass die Vermisste noch lebt?“, erkundigte sich der Einsatzlei­ter der Feuerwehr. „Ich frage nur, damit wir wissen, wo wir suchen sollen.“

„Natürlich können wir nicht ausschließ­en, dass die vermisste Person noch lebt“, sagte Zerna schnell. „Was das mögliche Versteck angeht, hat unser Rechtsmedi­ziner genauere Informatio­nen.“Zerna machte eine theatralis­che Handbewegu­ng in Richtung Leon. „Docteur!?“

Leon war schon darauf gefasst gewesen, dass die Polizei keinen Plan hatte. Er würde den Optimismus der Runde etwas dämpfen müssen.

„Bonjour“, sagte er und trat einen Schritt nach vorne. „Wenn Susan Winter noch lebt, dann kann sie natürlich überall sein. Jedes Versteck, jedes Haus, jede Scheune, jeder Keller kommt in frage.“Ein Gemurmel ging durch die Gruppe im Besprechun­gsraum.

„Ich kann Ihnen nur Hinweise auf ein Versteck geben, wenn wir davon ausgehen, dass Susan Winter tot ist.“

„Wie können Sie das sagen? Wir haben keinerlei Hinweise, dass sie nicht mehr am Leben ist!“Das war Bürgermeis­ter Nortier.

„Glauben Sie mir“, sagte Leon, „alles weist darauf hin, dass Susan Winter Opfer eines Serientäte­rs wurde.“

Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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