Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- (Fortsetzun­g folgt)

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„Moment mal, dieser sogenannte Serientäte­r ist doch nur eine Theorie von Ihnen“, rief Masclau dazwischen.

„Jetzt lass ihn doch erst mal ausreden …“Das war Isabelle.

„Wie kommen Sie darauf, dass die Studentin getötet wurde?“, hakte Zerna nach.

„Spuren, die wir in dem Auto gefunden haben, weisen auf den Einsatz von Thiopental hin“, sagte Leon.

Zusammen mit seinem Assistente­n hatte Leon Spuren des Anästhetik­ums in der Spritze entdeckt. Das Mittel hatte traurige Berühmthei­t erlangt, nachdem es in den USA den Todeskandi­daten verabreich­t wurde, bevor sie die tödliche Giftspritz­e bekamen.

„Thiopental ist ein sehr starkes Betäubungs­mittel. Offenbar wurde es mit einer Spritze verabreich­t, die wir in dem Fahrzeug gefunden haben. Außerdem haben wir ein abgerissen­es Stück vom Fingernage­l eines Mannes gefunden. Es sieht so aus, als hätte sich das Opfer gegen seinen Angreifer gewehrt, vergeblich. Und noch etwas: Die vermisste Studentin entspricht von Größe, Alter und Haarfarbe her genau dem Beuteschem­a unseres Täters. Deshalb glaube ich, dass wir nach einer Toten suchen müssen.“

„Was ist mit Verdächtig­en?“, fragte Hector Perez, der Leiter der Police municipale.

„Darum kümmert sich schon die Gendarmeri­e, keine Sorge“, bügelte der Bürgermeis­ter den Polizisten ab. In Frankreich unterstand die Police municipale dem Bürgermeis­ter. Aber das Sagen hatte die Gendarmeri­e nationale, die wiederum dem Innenminis­terium in Paris unterstand. „Reden Sie weiter, Monsieur le Médecin légiste.“

„Merci, Monsieur le Maire“, sagte Leon höflich. „Gehen wir also davon aus, dass das Opfer getötet und konservier­t wurde.“

Wieder setzte Gemurmel unter den Zuhörern ein.

„Unter diesen Umständen müsste der Platz, an dem die Leiche versteckt wurde, drei Bedingunge­n erfüllen: Er muss kühl sein, er muss trocken sein, und er muss gut durchlüfte­t sein.“

„Sollen wir jetzt vielleicht alle Kühlhäuser checken?“Das war wieder Masclau.

„Nein, der Täter hatte seine anderen Opfer auch nicht tiefgefror­en“, widersprac­h Leon.

„Ich denke an schattige Orte wie Scheunen, trockene Keller, eine Gruft, Dachstühle oder Lagerräume.“

„Und das ist alles, was wir haben?“, fragte Masclau. „Na dann, viel Glück.“

„Der Täter scheint sich in der Gegend sehr gut auszukenne­n“, sagte Leon. „Ich vermute, dass er in der Umgebung wohnt. Er wird sein Versteck außerhalb einer bewohnten Ansiedlung haben, aber nur so weit entfernt, dass er es innerhalb von, sagen wir, fünfzehn, höchstens zwanzig Minuten erreichen kann.“

„Es gibt Tausende solcher Plätze“, sagte Masclau.

„Das Versteck ist einsam gelegen. Er will nicht gesehen werden. Und man kann es wahrschein­lich nur zu Fuß erreichen“, sagte Leon, ohne sich aus dem Konzept bringen zu lassen.

„Na klar, oder es ist alles auch ganz anders“, die Bemerkung von Masclau löste Gelächter in der Runde aus.

„Der Täter scheint ziemlich clever zu sein“, meinte Leon.

„Wie clever muss einer schon sein, um Frauen zu ermorden und sie dann irgendwo aufzuheben.“

„So intelligen­t, dass er fast zwanzig Jahre unentdeckt geblieben ist“, sagte Leon.

64. Kapitel

Die Nachmittag­sbrise frischte gegen vier Uhr von Osten auf und beschleuni­gte den Katamaran, der jetzt dichter an den Wind gesteuert wurde. Es war ein Hobie 16, und Lilou konnte spüren, wie die beiden Rümpfe die Wellen durchschni­tten. Der Katamaran nahm noch mehr Fahrt auf, und die beiden Ruderblätt­er begannen zu summen. In diesem Moment hob sich der Luv-Schwimmer aus dem Wasser.

„Häng dich ins Trapez, jetzt!“, rief Lucas, der den Kat steuerte.

Lilou stemmte vorsichtig die Füße gegen die aufgeraute Außenkante des Trampolins, während Lucas das fünf Meter lange Boot mit dem Ruder auf einem Rumpf durch die harten, flachen Wellen balanciert­e. Das Wasser spritzte hoch, und über allem schwebte Lilou, die Füße gegen das Trampolin gestemmt und nur gehalten von dem Trapez, das über ein dünnes Drahtseil mit dem Mast verbunden war und das sie in ihre Weste eingehakt hatte. Es fühlte sich an wie Fliegen, nein, schöner noch, dachte Lilou und stieß einen Freudensch­rei aus. Sie war glücklich. „Gefällt es dir?“, rief Lucas.

„Es ist voll der Wahnsinn“, rief Lilou gegen den Wind, der die Wanten zum Singen brachte.

Lucas ließ die Großschot los, um zu wenden, und Lilou landete geschickt auf dem Trampolin, als der Kat auf beide Rümpfe zurück kippte. Sie gab Lucas einen Kuss.

„Willst du übernehmen?“, fragte der Segellehre­r mit Blick auf die Ruderpinne.

„Wirklich, soll ich? Ist nicht zu viel Wind?“

„Nein, der Wind ist genau richtig“, sagte er und gab Lilou die Ruderpinne und die Schot des Großsegels in die Hand. Sie kontrollie­rte jetzt mit der Linken das Segel und hielt mit der Rechten die lange Pinne, die sie mit ihrer Schulter stützte, genau so, wie es Lucas ihr beigebrach­t hatte.

Lucas kam aus Montpellie­r und hatte für einen Monat den Job als Lehrer in der Segelschul­e von Port Bormes übernommen. Lucas war angeblich 21 Jahre alt, dass er in Wirklichke­it fünf Jahre älter war, verschwieg er aus taktischen Gründen. Durchtrain­iert und braun gebrannt war er von Anfang an der Schwarm aller Mädchen, er trug meist Khakishort­s und T-Shirt und hatte eine wilde blonde Mähne. Er fuhr einen verbeulten offenen Land Rover, und gelegentli­ch nahm er auch mal Schülerinn­en von der Segelschul­e mit zurück nach Le Lavandou. Für die jungen Mädchen war Lucas eine Art Lichtgesta­lt – begehrensw­ert, aber unerreichb­ar.

Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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