„Der Krieg hat begonnen“
Berauschend und beeindruckend: Frank Hoffmann hat „Die Möwe“von Anton Tschechow in Trier inszeniert und schlägt dabei eine Brücke ins Russland von heute
Auf einem Landgut in der russischen Provinz will der angehende Schriftsteller Konstantin die dort Versammelten mit einem selbst verfassten Theaterstück von seinem Talent überzeugen. Seine Mutter Arkadina, eine kapriziöse Schauspielerdiva, ist mit ihrem neuen Geliebten, dem Schriftsteller Trigorin, aus Moskau angereist. Aufgeführt wird das Stück von Nina, die davon träumt, in Moskau als Schauspielerin unsterblich zu werden, und in die Konstantin verliebt ist.
Doch schon nach kurzer Zeit lässt der ehrgeizige Autor die Aufführung abbrechen, weil seine Mutter das Stück immer wieder spöttisch ins Lächerliche zieht. Arkadina ist eine alternde Schauspielerin, deren größte Sorge darin besteht, dass sie von einer jüngeren Konkurrentin verdrängt werden könnte.
Frank Hoffmann, Direktor des Théâtre National du Luxembourg, hat für das Trierer Theater „Die Möwe“von Anton Tschechow inszeniert – eines der bedeutendsten dramatischen Werke der Weltliteratur, das weniger durch Intrigen und dramatische Wendungen besticht als durch eine ausgefeilte psychologische Gestaltung der Hauptfiguren. Mit einer intensiven Inszenierung, die von ausgezeichneten Schauspielern getragen wird, bringt Hoffmann, sowohl die Lethargie und Langeweile als auch das immerzu neue, aber erfolglose Aufbeben dieser russischen Gesellschaft mit all ihren verbalen Bösartigkeiten und doppeldeutigen Anspielungen, so wie sie Tschechow treffend formuliert hat, wunderbar zum Ausdruck.
Das Stück ist eine Ode an die Schauspielkunst, in der Tschechow auch die Intensität und Zerbrechlichkeit unseres Lebens, unserer Liebe und unserer Träume erkundet. Viele Figuren sind Künstler, Schauspieler, Schriftsteller, aber auch Tagträumer – verliebt, bekifft und versoffen. Dem Schriftsteller Trigorin sind sogar Zerrissenheit und Zwiespalt förmlich ins Gesicht geschrieben: Von der Stirn bis zum Kinn durchzieht ein Strich sein Antlitz.
„Das Theater ist wesentlich, man kann nicht ohne es auskommen“, sagt zu Beginn der Aufführung Sorin, Arkadinas Bruder, und man fühlt sich an die CovidZeit erinnert, als das Theater uns allen tatsächlich fehlte. Tschechow stellt die grundlegende Frage, was ein Schauspieler ist, was die Schauspielkunst ausmacht, und wie die Bühne die Wahrheit berühren kann. Das Verlangen nach innovativen Kunstformen und Kritik an der selbstgefälligen Geschwätzigkeit des Kulturbetriebs werden ebenfalls deutlich.
Hoffmann gelingt es, all diesen Figuren eine berührende Seele zu verschaffen: der ambitionierte, aber wenig talentierte Künstler Konstantin (Marvin Groh), die träumende Nina (Jana Auburger) und ihre naiv-verklärende Sicht der Künstlerexistenz, die arrivierten Künst
Aus der erdrückenden Langeweile hilft nicht das Theater, und auch die Liebe schafft das nicht. Denn die heillos in ihr Unglück verstrickten Figuren lieben irgendwie stets den Falschen, oder die Falsche … Dabei kommt die Einsamkeit aller im Bühnenbild des bekannten Malers Ben Willikens zum Ausdruck. Der ehemalige Professor und Rektor der Münchener Kunstakademie gilt als der Maler der menschenleeren Räume.
Für „Die Möwe“in Trier hat er einen streng komponierten und in seiner Weite beeindruckenden Bühnenraum entworfen, ein monumentales abstraktes Gebilde, das all die kleinen russischen Provinzler noch winziger und bedeutungsloser erscheinen lässt, als sie ohnehin
schon sind. Lichtdesigner Andreas Rehfeld bringt in das blaugraue Interieur mal Wärme, mal russische Kälte rein. Susann Bieling hat bezaubernde Kostüme entworfen, ganz passend zu den unterschiedlichen Charakteren, die im Blau-Grau der Bühne besonders gut hervorstechen, derweil René Nuss für Musik und Sounddesign gesorgt hat.
Zwischen den vier Akten lässt Hoffmann seine Schauspieler frenetisch tanzen, um Stühle und Tische wieder zu ordnen. Es sind Momente, die wie Klammern der Zeit wirken, und in denen die Figuren auch mal aus ihrer Lethargie schlüpfen dürfen. Als ausgestopftes Tier auf dem Tisch steht am Ende die Möwe, Symbol für das freie, glückliche Leben, das man aus purer Langeweile zerstören kann, was Konstantin in seiner Verzweiflung auch tut.
Es ist Winter. Kein Theaterspiel, aber ein triviales Gesellschaftsspiel ist angesagt. Sorin liegt im Sterben, Konstantin läuft in Uniform herum wie ein ferngelenkter Soldat. Er versucht noch zu schreiben, ihm blicken auch alle noch staunend über die Schulter in seine Notizblätter, aber für ihn gibt es sowohl in dem damaligen als auch in dem heutigen Russland keine Zukunft mehr.
Frank Hoffmann schlägt an dieser Stelle eine Brücke in die heutige Zeit. Nina, mittlerweile Provinzschauspielerin, erscheint auf der Bühne in einem modernen Outfit, genauso übrigens wie bereits im ersten Akt, als sie erstmals mit der Schauspielkunst in Berührung kam. Diesmal ist sie leuchtend rot gekleidet. Steht das Rote für die Liebe? Oder vielleicht für Sehnsucht nach einer besseren Welt? Es besteht noch Hoffnung .... Für Konstantin aber ist es längst zu spät. Wird er einberufen? In der Inszenierung von Hoffmann sprengt er sich am Bahnhof in die Luft, derweil er sich bei Tschechow erschießt. „Der Krieg hat begonnen“, lautet der letzte Satz. Auch den gibt es nur in der Inszenierung von Frank Hoffmann. Und der Krieg geht weiter …
„Die Möwe“von Anton Tschechow am Theater Trier, Augustinerhof 3. Weitere Aufführungen am 20. Januar, am 4. und 17. Februar sowie am 1. und 19. März. Kartenservice 0049 651 / 7 18 18 18 oder theaterkasse@trier.de
Wir brauchen neue Formen. Neue Formen brauchen wir, und wenn es die nicht gibt, dann brauchen wir besser gar nichts. Konstantin Treplew in „Die Möwe“von Anton Tschechow