Ein Philosoph lässt Nice von der Champions League träumen
Es war eine veritable Seltenheit, die die 26.680 Zuschauer am Samstagabend im gut gefüllten Roazhon Park in Rennes geboten bekamen: Eine Mannschaft aus Nice, die den Gegner früh attackierte, sich in der gegnerischen Hälfte festspielte und beherzt den Torabschluss suchte.
Natürlich, die Gäste waren gefordert, da sie nach einer halben Stunde Spielzeit durch einen Handelfmeter in Rückstand geraten waren. Bis dorthin hatten sie das gezeigt, was sie in dieser Saison auszeichnet und erfolgreich macht: konzentrierte Defensivarbeit, gepaart mit schnellen Gegenangriffen. Bis auf Tabellenplatz zwei hat sich Nice mit dieser Taktik vorgearbeitet.
Baumeister dieses ungewohnten Erfolgs ist ein ebenso junger wie zielstrebiger Trainer: Francesco Farioli, der seinen Sport gerne von einem philosophischen Standpunkt aus betrachtet. Und dennoch herrscht beim Club von der Côte d’Azur längst nicht nur eitel Sonnenschein.
Nice spielt die bislang beste Saison, seitdem der britische Milliardär Jim Ratcliffe den Verein im Sommer 2019 aufkaufte. Wie alle Investoren gab sich auch der heute 71-jährige Nordengländer, der als reichster Mann auf der britischen Insel gilt, damals äußerst ambitioniert: „Wir wollen zu den vier besten Teams der Ligue 1 gehören“, sagte er – machte jedoch auch deutlich, dass er massive Investitionen wie etwa in Paris oder bei Manchester City nicht tätigen werde.
Gezielte Verstärkungen
Deshalb gab er vergleichsweise beschauliche Summen für vorwiegend junge Spieler aus, mit entsprechend beschaulichem Erfolg. Nice schaffte es in den vergangenen Jahren nie unter die Top Vier der französischen Meisterschaft. Doch in der laufenden Saison befindet sich das Team auf Champions-League-Kurs.
Obwohl der Verein in diesem Sommer erneut auf spektakuläre Neuzugänge verzichtete: Mittelstürmer Terem Moffi kam aus Lorient, Linksaußen Jérémie Boga aus Bergamo und Mittelstürmer Mohamed-Ali Cho wurde von Real Sociedad losgeeist; alle drei kosteten zusammen knapp 50 Millionen Euro. Moffa und Boga schossen neun der 19 Tore der Südfranzosen. Das nennt der Engländer wohl einen positiven Return on Investment.
Allerdings ist das Prunkstück der Mannschaft unbestreitbar die Abwehr: Mit elf Gegentoren in 18 Spielen stellt Nice nach wie vor eine der besten Defensiven der fünf großen europäischen Ligen. Und hier machten sich die Kontakte Ratcliffes zum englischen Fußball bezahlt: Per Leihe kamen Romain Perraud aus Southampton und Morgan Sanson von Aston Villa, beide stabilisierten die Defensive um den bärenstarken polnischen Nationaltorhüter Marcin Bulka und den 40-jährigen brasilianischen Innenverteidiger Dante nochmals.
Ein derart talentiertes Orchester benötigt natürlich einen fähigen Dirigenten und hier erwies sich Farioli als wahrer Glücksfall. Der Italiener ist erst 34, doch mit dem Verteidigen kennt er sich aus. Schließlich schrieb er seine Doktorarbeit im Fach Philosophie an der Universität Florenz über das Thema „Filosofia del gioco: l‘estetica del calcio e il ruolo del portiere“– „Philosophie des Spiels: die Ästhetik des Fußballs und die Rolle des Torwarts“.
Kein klassisches Catenaccio
Und tatsächlich: Dieser Philosoph auf dem Trainerstuhl lässt nur vordergründig den guten alten Catenaccio bester italieni
Mit anspruchsvollem Defensivfußball findet der französische Club zum Erfolg. Doch die Art und Weise gefällt nicht jedem
scher Prägung zelebrieren. Denn bei näherem Hinsehen entpuppt sich das Spiel von Nice als ein technisch und taktisch anspruchsvolles Defensivkonzept.
Allein, die Fans konnten sich mit dem neuen Spielstil noch nicht so richtig anfreunden. Im letzten Heimspiel vor der Winterpause musste sich das Team gegen den Spitzenclub aus Lens sogar gellende Pfiffe von den halbleeren Rängen gefallen lassen. Und das, obwohl Nice die Partie souverän mit 2:0 gewann und seine Stellung als erster Verfolger von Meister Paris festigte.
Doch die „Aiglons“, wie die Spieler genannt werden, sollen sich nach der Vorstellung der Fans eben auf ihre Gegner stürzen wie Adler auf ihre Beute. Nice jedoch gleicht in diesen Tagen eher einer Katze, die geduldig vor dem Mausloch lauert und auf den günstigen Moment zum Zuschlagen wartet.
Wir wollen zu den vier besten Teams der Ligue 1 gehören. Jim Ratcliffe, Nice-Investor
Es gibt also durchaus ein paar dunkle Wolken am Himmel über Nice, zumal Clubboss Ratcliffe an Heiligabend ein Viertel der Anteile an Manchester United erwarb. Wird sich der Gründer des Chemiegiganten Ineos nun aus Nice zurückziehen? Oder kann der Verein vielleicht auf günstige Leihspieler aus dem englischen Nordwesten hoffen? Die Saison wird jedenfalls spannend bleiben für Nice, das in besagter Partie gegen Rennes die Erfahrung machen musste, dass ihr Offensivdrang nicht den gewünschten Erfolg brachte: Das Spiel ging 0:2 verloren.