Konträre Lesart setzt Regierung unter Druck
Nach Aussagen der Staatsanwaltschaft stellt sich die Frage, wie es mit Polizeieinsätzen gegen Bettler weitergeht
Ist Polizeieinsatz gegen einfache Bettelei rechtens?
Die offizielle Wetter-Warnung kam von der Krisenzelle, unter dem Vorsitz des Innenministeriums. Gemeint war das Glatteis. Inzwischen muss Innenminister Léon Gloden (CSV) selber aufpassen, dass er nicht ausrutscht. Politisch – und nicht nur er.
In der Fragestunde im Parlament am Dienstag hatte die LSAP-Abgeordnete Paulette Lenert sich zur Rechtsbasis jener polizeilichen Verordnung in der Hauptstadt erkundigt, auf deren Grundlage gestern Polizisten dem Bettelverbot im Stadtzentrum nachgingen.
Mit den Aussagen von Staatsanwalt Georges Oswald vom Gerichtsbezirk Luxemburg am Mittwoch gegenüber RTL Radio rückt die Aufhebung der Entscheidung seiner Vorgängerin durch Innenminister Léon Gloden in ein immer schieferes Licht: Es gibt wohl doch keine Rechtsgrundlage dafür, auch das einfache Betteln (nicht organisiert und ohne Aggressivität) durch Einzelpersonen zu verbieten und folglich zu ahnden. Dafür aber Gerichtsurteile aus zweiter Instanz, die festhalten, dass die einfache Bettelei seit 2008 nicht mehr unter Strafe steht.
Entsprechender Passus 2008 aus Code pénal gestrichen
Den Hintergrund lieferte Oswald im RTLInterview: Bei der Reform des Immigrationsgesetzes 2008, in deren Folge weitere Gesetze geändert wurden, sei dem Gesetzgeber ein Fehler unterlaufen: Statt den richtigen Passus im Artikel 563 des Strafgesetzbuchs zu streichen, sei durch einen Zahlendreher der falsche Passus gestrichen und damit das Verbot der einfachen Bettelei aufgehoben worden.
Das Problem war, zumindest in der Justiz, schnell erkannt. Es war der damalige Staatsanwalt Robert Biever, der bereits 2009 per Brief die Polizei auf die Rechtsunsicherheit für Einsätze gegen bettelnde Personen hinwies. Trotz mehrerer parlamentarischer Anfragen von Parteien unterschiedlicher Couleur, und schließlich einer Jurisprudenz aus zweiter Instanz, hielt aber offenbar niemand das Problem für so dringlich, die Streichung per Gesetz zu korrigieren.
Staatsanwalt Georges Oswald ist gegenüber RTL formell: Jurisdiktionen aus zweiter Instanz bestätigten, dass das Verbot der einfachen Bettelei abgeschafft sei, „egal, was andere Leute sagen“. Und daran würden sich die Justizautoritäten weiter halten, so Oswald, der die „Rechtsunsicherheit“bedauert.
Der Staatsanwalt verweist auf den Gesetzgeber. Dieser habe seit 2008 „mehrfach die Gelegenheit gehabt“, die Rechtslücke zu regeln. Das ist bis heute nicht geschehen.
Übrigens, auch unter dem CSV-Justizminister Francois Biltgen nicht, der sich in seiner Amtszeit ebenfalls mit der Thematik konfrontiert sah. Und auch nicht während der Chamber-Debatte um den Platzverweis vor rund drei Jahren, in deren Verlauf der Gemeindeverbund Syvicol in seinem Gutachten vom Dezember 2021 an die Lesart der Gerichte erinnerte, wonach diese „Verhaltensweise (die einfache Bettelei, A.d.R.) daher aktuell nicht sanktioniert wird“.
Justizministerin Elisabeth Margue (CSV) hatte jedoch am Dienstag zu verstehen gegeben, sie sehe keinen Bedarf, gesetzlich nachzubessern. Das, obwohl die Diskussionen um die Rechtmäßigkeit der hauptstädtischen Polizeiverordnung nicht abbrechen. Margue antwortete dem „Wort“auf Nachfrage, einen separaten Gesetzentwurf dazu auf den Weg zu bringen, sei nicht geplant. Die Justizministerin schließt „eine Klärung im Kontext von einer breiteren Revision des strafrechtlichen Rahmens“indes nicht aus. Polizeiverordnungen fielen in die Kompetenz des Innenminis
teriums, daher wollte sich die Ministerin weder zur Lesart Glodens, noch zu der der Staatsanwaltschaft äußern.
Margues Vorgängerin, Sam Tanson, Grünen-Abgeordnete und ehemals Gemeinderätin in der Hauptstadt, kennt die Bettelei-Kontroverse ebenfalls gut. Sie sei zu ihrer Amtszeit aber „erst am Ende der Legislaturperiode aufgekommen“. Das war, nachdem die DPBürgermeisterin von Luxemburg-Stadt mit dem Koalitionspartner CSV auf die Idee kam, die Bettelei per erweiterter Polizeiverordnung zu bekämpfen. Eben jene Erweiterung vom März, die die damalige Innenministerin Taina Bofferding (LSAP) nach Prüfung als nicht rechtskonform verworfen hatte. Dagegen hatte die Stadt Einspruch erhoben.
„Die Rechtsunsicherheit ist kein neuer Moment“, betont Sam Tanson. Damals sei schon klar gewesen, dass die Basis fehlt, um im großen Stil gegen das Betteln vorzugehen. In einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Linken Nathalie Oberweis vom 4. Mai 2023 erläuterte die grüne Justizministerin die Rechtslage so: Die Justizautoritäten betrachten den Punkt 6 „in seiner Integralität“als abgeschafft. „Eine Änderung zum jetzigen Zeitpunkt ist nicht geplant“, sie sei aber im Rahmen einer Revision des Strafgesetzbuches möglich. Tanson selbst habe damals keinen Regelungsbedarf gesehen. „Warum sollte ich etwas abschaffen, was schon abgeschafft war?“
Die Grüne ist es auch, die die gemeinsame Sitzung von Justizkommission und Kommission für Innere Sicherheit beantragt hat, diesmal mit der zuständigen Staatsanwaltschaft – um die juristische Lesart der Problematik durch den Innenminister und die Justizministerin zu klären, aber auch um Einblick in die Anordnungen des Polizeieinsatzes zu bekommen. Die nicht-öffentliche Sitzung wurde am Mittwoch aufgrund der gefährlichen Wetterlage abgesagt. „Es ist besser, wenn ein so konfliktträchtiges Thema nicht über Visio diskutiert wird“, so Tanson.
Innenministerium: kein Kommentar
Der Innenminister will auf „Wort“-Nachfrage die Aussagen der Justizautoritäten nicht kommentieren, auch sonst keine Stellungnahme abgeben und hat ein Interviewgesuch des „Luxemburger Wort“von Anfang der Woche ebenfalls abgelehnt. Nichts destotrotz bleibt der Druck auf Léon Gloden hoch. Der Minister, von Beruf Jurist, hat den Abgeordneten Rechenschaft zu geben, zum Beispiel darüber: Hat das Innenministerium, das bis zum 15. Dezember auf den Einspruch seitens der Stadt reagieren musste, die Justizautoritäten um eine fachliche Einschätzung gebeten – um etwaige Zweifel auszuräumen? Wie kommt die konträre Lesart zustande? Und schließlich: War der Polizeieinsatz dann überhaupt rechtens?
Zum Polizeieinsatz sagte Staatsanwaltschaft Georges Oswald gegenüber RTL Radio: Eine Polizeiverordnung könne ein Bettelverbot nicht wieder einführen, das zuvor aus einem Gesetz, wenn auch versehentlich, gestrichen wurde. Die Einschränkungen von Grundfreiheiten, das regelt die Verfassung, müsse per Gesetz erfolgen, sonst ist sie rechtswidrig.
Den Schaden hat jetzt aber nicht nur die Polizei, deren Einsatz gegen die städtischen Bettler vielleicht auf tönernen Füßen steht. Premier Luc Frieden hatte sich bislang darauf zurückgezogen, die Angelegenheit sei die des Innenministers.
Jurisdiktionen bestätigen, dass das Bettelverbot abgeschafft ist – egal, was andere Leute sagen. Und daran halten wir uns. Georges Oswald, Staatsanwalt am Bezirksgericht Luxemburg
Ausland wird auf Bettelei-Verbotsdebatte aufmerksam
Bürgermeisterin Lydie Polfer muss sich ganz ähnliche Fragen gefallen lassen. Denn auch sie kennt die Geschichte jenes Artikels im Strafgesetzbuch: In einer Sitzung der Innenund Justizkommission im Juni 2020 hatte Polfer selbst dargelegt, der Gesetzgeber habe das Verbot der einfachen Bettelei und den damit verbundenen Artikel nie streichen lassen wollen. Die Abschaffung sei „aufgrund eines Irrtums geschehen“. Polfer plädierte schon damals für eine Gesetzesreform und eine härtere Gangart. Den Schaden haben zunehmend das Land und, vielleicht, auch die Regierung: Die Debatte ist damit nämlich nicht zu Ende, sondern nimmt an Tempo auf: Die Petition Nr. 2991, die das Betteln „zu jeder Zeit und an jedem Ort“erlauben will, hat, Stand heute 16 Uhr, mit über 4.450 Unterschriften ihr Quorum fast erreicht – Parlament und Regierung werden sich also erneut mit der Kontroverse befassen müssen.
Zunehmend wird auch das Ausland auf die Luxemburger Rechts-Posse aufmerksam. Nach „Süddeutsche Zeitung“, die Mitte Dezember den Streit ums fragwürdige Bettelverbot aufgriff, zog gestern die „Saarbrücker Zeitung“nach.