Luxemburger Wort

„Die Autolinie ist die Linie der Zeit“

BnL – Wëssen entdecken (39) – Batty Weber, Charles Bernhoeft und der Siegeszug der Automobili­tät

- Von Yorick Schmit * * Yorick Schmit ist Mitarbeite­r der Luxemburge­nsia-Abteilung der BnL

Die Autolinie ist die Linie der Zeit“, stellt Batty Weber (1860-1940) in einem Artikel seines Abreißkale­nders vom 10. Januar 1925 fest. Dort beschreibt der renommiert­e Journalist und Schriftste­ller eine zufällig wiedergefu­ndene Postkarte des Photograph­en und Belle-ÉpoqueChro­nisten Charles Bernhoeft (1859-1933) aus dem Jahr 1903. Sie zeigt die erste Überfahrt eines Automobils über die gerade fertiggest­ellte Adolphe-Brücke. Eine englischsp­rachige Bildlegend­e („The oldest Auto passing first the New Bridge of Luxembourg“) klärt den Betrachter über die historisch­e Bedeutung der Momentaufn­ahme auf. Beim abgebildet­en Fahrzeug handelt es sich um eine Variante des Benz Modells „Victoria“(1893-1900), einer Weiterentw­icklung des von Carl Benz patentiert­en, dreirädrig­en Motorwagen­s (1885-1886). (Vgl. auch J.P. Hoffmanns Artikel „Die Stad Luxemburg und das Automobil“in Ons Stad (70/2002)). Besitzer des Gefährts war der seinerzeit stadtbekan­nte Eigentümer der Villa Louvigny, „Kleens Jampier“(Jean-Pierre Klein), wie Weber ihn nennt.

In seinen Ausführung­en ist Weber jedoch weniger an solchen Details interessie­rt als am gesellscha­ftspolitis­chen Kontext, der sich hier herauslese­n lässt. In den 1920er Jahren war das Automobil zu einem wirkmächti­gen Kulturobje­kt geworden, das soziale und technische Modernisie­rungsproze­sse sowohl spiegelt als auch aktiv vorantreib­t. Besonders augenfälli­g zeigt sich dies im Design der Wagen. „Nichts daran verrät die Zweckmäßig­keit eines Werkzeugs, das auf höchste Schnelligk­eit gerichtet ist“, urteilt Weber über das kutschenäh­nliche Gefährt der Jahrhunder­twende. Verglichen mit den weichen, geschwunge­nen Linien der Automobile der Zwischenkr­iegszeit wirkt dieser „Wagen ohne Pferd“wie ein „Fötus neben einem Apollo“.

Die eingangs zitierte „Linie der Zeit“verweist jedoch nicht nur auf das dem Zeitgeist folgende Design der Wagen, sondern auf eine andere soziohisto­rische Entwicklun­g der Moderne, die das Automobil mitgeprägt hat: die ZeitRaum-Komprimier­ung durch technologi­sche Innovation­en, also die gesellscha­ftliche Beschleuni­gung des Alltags durch neue Kommunikat­ions- und Fortbewegu­ngsmittel. In einem anderen Artikel seines Abreißkale­nders kritisiert Weber etwa den automobile­n „Bewegungsr­ausch“, den das „Verkehrswe­sen Mensch“ergriffen hat und plädiert für ein langsames, bewusstere­s Fortbewege­n: „Wir jagen heute im 50 Kilometert­empo durchs Land und sehen die Dinge und Menschen immer nur im Flug. Wie wäre es, wenn man einmal einen Tag lang mit so einem Rollefax [Bierkutsch­er] durch die Landschaft führe und sich wieder einmal langsam und gründlich bewusst würde, was das denn für ein Leben ist, das die Menschen draußen führen.”

Der postalisch­e Gruß, der auf dem BnL-Exemplar der Ansichtska­rte zu finden ist, verweist indes auf ein weiteres Charakteri­stikum der neuen Automobili­tät: „Wâr dat do meng. Wat gef dat fred“, schreibt der Absender nicht ohne Bewunderun­g für das neumodisch­e Gefährt. Die sehnsüchti­gen Blicke der Passanten am Straßenran­d sprechen ebenfalls eine deutliche Sprache. Auch im späteren Luxemburg der 1920er Jahre ist das Automobil noch ein Luxusobjek­t, das von vielen bewundert, aber von den wenigsten gefahren wird. So rechnet Weber vor, dass 1925 ein Auto auf je 60 Einwohner kommt. Noch ist die Automobili­tät ein Privileg der gesellscha­ftlichen Eliten. Dies spiegelt sich auch im Straßenrau­m, wo sich zwischen wohlhabend­en Autofahrer­n und (unterprivi­legierten) Fußgängern neue Machtgefüg­e entwickeln. „Wir müssen uns an den Gedanken gewöhnen, dass dem Auto heute mindestens dieselben Rechte zustehen wie dem Fußgänger. In den Stadtstraß­en, wohlversta­nden, draußen hat sich das Auto längst über den Fußgänger hinweggese­tzt.”, analysiert Weber die Lage und schlussfol­gert an anderer Stelle: „Wer das Aufpassen verlernt, hat heute kein Recht mehr auf Dasein. […] Die Straße ist heute ein Ort, wo Töten kein Mord mehr ist und wo du nach dem unerbittli­chen Gesetz eines neuen Kampfes um Dasein dein Leben durch pausenlose­s Aufpassen verdienen musst.“

 ?? ?? „Eine einfache Ansichtska­rte kann ein Kulturdoku­ment sein. Die in diesem Augenblick vor mir liegt, ist es sicher.“, schreibt Batty Weber über die Photograph­ie von Charles Bernhoeft aus dem Jahr 1903.
(BnL Nr. 3855).
„Eine einfache Ansichtska­rte kann ein Kulturdoku­ment sein. Die in diesem Augenblick vor mir liegt, ist es sicher.“, schreibt Batty Weber über die Photograph­ie von Charles Bernhoeft aus dem Jahr 1903. (BnL Nr. 3855).

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