Schwarzer Lavendel
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Erstens war er deutlich älter als die meisten von ihnen, und außerdem hatte er als Segellehrer die Aufsichtspflicht und Verantwortung über seine Gruppe von rund zwanzig minderjährigen Segelschülerinnen.
Lilou hatte schnell gemerkt, dass Lucas sich für sie mehr interessierte als für ihre Mitschülerinnen. Am Anfang hatten sie sich nur zugelächelt, und Lucas hatte Lilou gelobt, wenn sie den Katamaran geschickter als die anderen wendete. Aber das war nur ein harmloser Flirt zwischen Ausbilder und Schülerin gewesen.
Doch vor einer Woche hatte Lucas sie zum ersten Mal geküsst, und seitdem war alles anders. Sie trafen sich heimlich, gingen zusammen zum Eisessen oder verabredeten sich an den Vormittagen, an denen Lucas freihatte. Lilou fieberte diesen heimlichen Begegnungen sehnsüchtig entgegen. Und manchmal, wenn sie über ihren Schulaufgaben brütete, erwischte sie sich dabei, dass sie an Lucas dachte. Wie sie mit ihm Hand in Hand bei Sonnenuntergang am Strand entlanglief. Wie sie mit ihm in seinem alten abenteuerlichen Land Rover durch die Berge fuhr und der Wind ihr durch die Haare zauste, und wie Lucas sie dann in den Arm nahm und sie sich küssten. Vor den Freundinnen erwähnte Lilou die Treffen mit Lucas mit keinem Wort, obwohl sie darauf brannte, es ihnen zu erzählen. Es war ihr gemeinsames großes Geheimnis, das hatte sie Lucas hoch und heilig versprechen müssen. Trotzdem hatte Lilou das Gefühl, dass die Mädchen aus der Segelschule sie in letzter Zeit irgendwie anders ansahen als früher.
„Jetzt abfallen und dann zurück zum Strand“, riss Lucas Lilou aus ihren Träumen. „Geh vor den Wind, Groß und Fock ganz öffnen.“
Lilou wendete das Boot in Richtung Küste, die jetzt nur noch als ein schmaler, heller Strich am Horizont zu sehen war. Sie wusste, dass sie bei diesem Tempo höchstens eine halbe Stunde bis zum Steg der Segelschule brauchen würden. Dreißig kostbare Minuten mit Lucas alleine. Sie lehnte sich an ihn und wünschte sich, dass sie nie ankämen.
Später, in der Segelschule, half Lilou zusammen mit den anderen die Boote auf den Strand zu ziehen und Segel und Takelagen in den Lagerraum hinter dem Büro zu tragen, in dem auch Schwimmwesten und Surfanzüge aufgehoben wurden. Eine Dreiviertelstunde später waren die meisten Mädchen nach Hause gefahren.
„Könntest du mir noch bei dem Programm für die Regatta helfen?“, fragte Lucas seine Lieblingsschülerin.
„Ich dachte, wir stellen es diesmal bei Facebook ein. Das ist einfacher, als allen wieder eine Mail zu schreiben.“
„Klar, super Idee“, meinte Lilou.
Jetzt verabschiedeten sich auch die letzten Mädchen und machten sich auf den Heimweg. Lilou folgte Lucas in das stickige Büro. Durch die große Scheibe konnte man den leeren Strand und das Meer sehen. Die Strahlen der untergehenden Sonne schickten ein letztes Licht auf die Inseln. Lucas hatte Lilou den Arm um die Schultern gelegt.
„Kommst du mit ins Segellager?“, fragte er. „Ich will dir was zeigen.“
Lilou nickte nur, und Lucas führte sie in den Schuppen, in dem es nach Holz und feuchten Segeln roch. Er legte seine Hände auf Lilous Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie. Lilou drängte sich an ihn.
„Komm“, sagte er sanft und setzte sich auf einen Stapel Persennings, ohne ihre Hand loszulassen. Sie folgte ihm, er lehnte sich zurück und zog sie zu sich herunter. Wie auf einem wunderschönen großen Bett, dachte Lilou, als ihr Traummann sie erneut küsste und sie seine Hände spürte.
65. Kapitel
Um diese Jahreszeit wurde es schon früher dunkel, und gegen 9.30 Uhr stellte die Polizei ihre Suche nach Susan Winter für diesen Tag ein. Das Ergebnis war ernüchternd, und Zernas Formulierung bei der kurzen Pressekonferenz, die ersten Spuren seien vielversprechend, aber aus ermittlungstaktischen Gründen könne er nicht mehr dazu sagen, war eine glatte Lüge. Genau gesagt hatte die Polizei gar nichts Neues entdeckt. Zwei britische Studentinnen, mit denen Susan Winter bei der Weinlese geholfen hatte, waren inzwischen in ihre Heimat Brighton zurückgekehrt. Isabelle hatte sie angerufen, aber auch nichts erfahren. Niemand hatte Susan mit ihrem ominösen neuen Freund gesehen. Es war zum Verzweifeln, die Frau aus Deutschland war wie vom Erdboden verschluckt. Alle wussten, dass sich die Ermittlungen festgefahren hatten, aber keiner wagte, es laut auszusprechen.
Als Isabelle nach Hause kam, ihre Jacke an die Garderobe hängte und ihre Waffe geräuschvoll in die oberste Schublade der Kommode legte, wusste Leon sofort, dass die Suche erfolglos verlaufen war. „Ich bin im Wohnzimmer“, rief Leon in Richtung Gang.
Einen Moment später kam Isabelle ins Zimmer. Sie ließ sich missmutig neben Leon auf dem Sofa nieder.
„Bonsoir, wie geht es meiner Lieblingspolizistin?“, fragte Leon freundlich. „Vorsicht, ich bin schlechter Laune“, erwiderte Isabelle. „Könnte ein Glas Château de Brégançon helfen, dein inneres Gleichgewicht wiederherzustellen?“, fragte Leon, und Isabelle zeigte ein winziges Lächeln. „Das ist doch schon mal ein Anfang.“
Leon füllte ein leeres Glas und reichte es Isabelle. „Mein Zaubertrank zur Lösung schwieriger Fälle“, sagte Leon.
„Dann brauche ich ’ ne ganze Flasche«, Isabelle nahm das Glas.
„Kann ich dich was fragen?“Leon sah sie abwartend an.
„Glaubst du, Ravier ist in die Sache verwickelt? Vergiss mal die Indizien, ich will deine ganz persönliche Meinung hören. Was sagt dir dein Gefühl?“
„Ravier ist ein Blender. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, führt er ein Leben, das eine Nummer zu groß für ihn ist. Große Villa, teures Auto.“
(Fortsetzung folgt)