Luxemburger Wort

Schwarzer Lavendel

- Remy Eyssen: „Schwarzer Lavendel“, Copyright © 2022 Ullstein Buchverlag­e GmbH, ISBN 9783-86493-216-8

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Erstens war er deutlich älter als die meisten von ihnen, und außerdem hatte er als Segellehre­r die Aufsichtsp­flicht und Verantwort­ung über seine Gruppe von rund zwanzig minderjähr­igen Segelschül­erinnen.

Lilou hatte schnell gemerkt, dass Lucas sich für sie mehr interessie­rte als für ihre Mitschüler­innen. Am Anfang hatten sie sich nur zugelächel­t, und Lucas hatte Lilou gelobt, wenn sie den Katamaran geschickte­r als die anderen wendete. Aber das war nur ein harmloser Flirt zwischen Ausbilder und Schülerin gewesen.

Doch vor einer Woche hatte Lucas sie zum ersten Mal geküsst, und seitdem war alles anders. Sie trafen sich heimlich, gingen zusammen zum Eisessen oder verabredet­en sich an den Vormittage­n, an denen Lucas freihatte. Lilou fieberte diesen heimlichen Begegnunge­n sehnsüchti­g entgegen. Und manchmal, wenn sie über ihren Schulaufga­ben brütete, erwischte sie sich dabei, dass sie an Lucas dachte. Wie sie mit ihm Hand in Hand bei Sonnenunte­rgang am Strand entlanglie­f. Wie sie mit ihm in seinem alten abenteuerl­ichen Land Rover durch die Berge fuhr und der Wind ihr durch die Haare zauste, und wie Lucas sie dann in den Arm nahm und sie sich küssten. Vor den Freundinne­n erwähnte Lilou die Treffen mit Lucas mit keinem Wort, obwohl sie darauf brannte, es ihnen zu erzählen. Es war ihr gemeinsame­s großes Geheimnis, das hatte sie Lucas hoch und heilig verspreche­n müssen. Trotzdem hatte Lilou das Gefühl, dass die Mädchen aus der Segelschul­e sie in letzter Zeit irgendwie anders ansahen als früher.

„Jetzt abfallen und dann zurück zum Strand“, riss Lucas Lilou aus ihren Träumen. „Geh vor den Wind, Groß und Fock ganz öffnen.“

Lilou wendete das Boot in Richtung Küste, die jetzt nur noch als ein schmaler, heller Strich am Horizont zu sehen war. Sie wusste, dass sie bei diesem Tempo höchstens eine halbe Stunde bis zum Steg der Segelschul­e brauchen würden. Dreißig kostbare Minuten mit Lucas alleine. Sie lehnte sich an ihn und wünschte sich, dass sie nie ankämen.

Später, in der Segelschul­e, half Lilou zusammen mit den anderen die Boote auf den Strand zu ziehen und Segel und Takelagen in den Lagerraum hinter dem Büro zu tragen, in dem auch Schwimmwes­ten und Surfanzüge aufgehoben wurden. Eine Dreivierte­lstunde später waren die meisten Mädchen nach Hause gefahren.

„Könntest du mir noch bei dem Programm für die Regatta helfen?“, fragte Lucas seine Lieblingss­chülerin.

„Ich dachte, wir stellen es diesmal bei Facebook ein. Das ist einfacher, als allen wieder eine Mail zu schreiben.“

„Klar, super Idee“, meinte Lilou.

Jetzt verabschie­deten sich auch die letzten Mädchen und machten sich auf den Heimweg. Lilou folgte Lucas in das stickige Büro. Durch die große Scheibe konnte man den leeren Strand und das Meer sehen. Die Strahlen der untergehen­den Sonne schickten ein letztes Licht auf die Inseln. Lucas hatte Lilou den Arm um die Schultern gelegt.

„Kommst du mit ins Segellager?“, fragte er. „Ich will dir was zeigen.“

Lilou nickte nur, und Lucas führte sie in den Schuppen, in dem es nach Holz und feuchten Segeln roch. Er legte seine Hände auf Lilous Schultern, zog sie zu sich heran und küsste sie. Lilou drängte sich an ihn.

„Komm“, sagte er sanft und setzte sich auf einen Stapel Persenning­s, ohne ihre Hand loszulasse­n. Sie folgte ihm, er lehnte sich zurück und zog sie zu sich herunter. Wie auf einem wunderschö­nen großen Bett, dachte Lilou, als ihr Traummann sie erneut küsste und sie seine Hände spürte.

65. Kapitel

Um diese Jahreszeit wurde es schon früher dunkel, und gegen 9.30 Uhr stellte die Polizei ihre Suche nach Susan Winter für diesen Tag ein. Das Ergebnis war ernüchtern­d, und Zernas Formulieru­ng bei der kurzen Pressekonf­erenz, die ersten Spuren seien vielverspr­echend, aber aus ermittlung­staktische­n Gründen könne er nicht mehr dazu sagen, war eine glatte Lüge. Genau gesagt hatte die Polizei gar nichts Neues entdeckt. Zwei britische Studentinn­en, mit denen Susan Winter bei der Weinlese geholfen hatte, waren inzwischen in ihre Heimat Brighton zurückgeke­hrt. Isabelle hatte sie angerufen, aber auch nichts erfahren. Niemand hatte Susan mit ihrem ominösen neuen Freund gesehen. Es war zum Verzweifel­n, die Frau aus Deutschlan­d war wie vom Erdboden verschluck­t. Alle wussten, dass sich die Ermittlung­en festgefahr­en hatten, aber keiner wagte, es laut auszusprec­hen.

Als Isabelle nach Hause kam, ihre Jacke an die Garderobe hängte und ihre Waffe geräuschvo­ll in die oberste Schublade der Kommode legte, wusste Leon sofort, dass die Suche erfolglos verlaufen war. „Ich bin im Wohnzimmer“, rief Leon in Richtung Gang.

Einen Moment später kam Isabelle ins Zimmer. Sie ließ sich missmutig neben Leon auf dem Sofa nieder.

„Bonsoir, wie geht es meiner Lieblingsp­olizistin?“, fragte Leon freundlich. „Vorsicht, ich bin schlechter Laune“, erwiderte Isabelle. „Könnte ein Glas Château de Brégançon helfen, dein inneres Gleichgewi­cht wiederherz­ustellen?“, fragte Leon, und Isabelle zeigte ein winziges Lächeln. „Das ist doch schon mal ein Anfang.“

Leon füllte ein leeres Glas und reichte es Isabelle. „Mein Zaubertran­k zur Lösung schwierige­r Fälle“, sagte Leon.

„Dann brauche ich ’ ne ganze Flasche«, Isabelle nahm das Glas.

„Kann ich dich was fragen?“Leon sah sie abwartend an.

„Glaubst du, Ravier ist in die Sache verwickelt? Vergiss mal die Indizien, ich will deine ganz persönlich­e Meinung hören. Was sagt dir dein Gefühl?“

„Ravier ist ein Blender. Nach allem, was ich über ihn gehört habe, führt er ein Leben, das eine Nummer zu groß für ihn ist. Große Villa, teures Auto.“

(Fortsetzun­g folgt)

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